Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
sie nichts sehnlicher herbeiwünschen als die Nähe eines Mannes, der zuhörte und der nicht ständig moralische Maßstäbe an menschliche Schwächen legte. Seine Briefe waren teilnahmsvoll und zärtlich; immer wieder bat er, an ihren Sorgen teilhaben zu dürfen, und er erfasste sogar instinktiv den Kern ihres Unglücks: »Ich bin doch dazu da, alles zu hören, verstellen muss man sich nur vor seinen Eltern ...« [211] Wenn man seine beständigen Selbstquälereien einmal außer Betracht ließ – und Felice war nur zu sehr geneigt, diesen besonders fremden und unverständlichen Zug zu ignorieren –, dann sprach wirklich nichts dagegen, diese Fürsorge anzunehmen.
Tatsächlich ist Felices Wunsch, sich Kafka zu nähern, selbst im unzulänglichen Spiegel von dessen Gegenbriefen unverkennbar. Sie braucht ihn und scheint erst jetzt, da der emotionale Schonraum der Familie zu einer Art Kampfplatz geworden ist, Kafkas intensive Innerlichkeit wirklich zu schätzen. Sie bittet ihn, doch wieder zu zwei Briefen täglich zurückzukehren; ihre eigenen Berichte werden länger, genauer, vertrauter. Sie erwähnt ihre Kindheit und sogar eine frühe Verliebtheit. Wenn es ihm schlecht geht, sendet sie tröstliche Worte per Telegramm, und telegrafische Glückwünsche empfängt Kafka auch zu seiner ersten Lesung. Sie schickt Blumen und ein Täschchen mit einem Foto. Sein Bild trägt sie in einem Medaillon an ihrem Hals. Sogar etwas Stolz scheint jetzt im Spiel, denn sie erklärt dem fernen Geliebten (der darüber vor Schrecken förmlich erstarrt), er sei doch ein wahrhaft »außergewöhnlicher« Mensch, in dem »Großes steckt«. Und zweimal schreibt sie einen Satz, der alles verspricht und der jene tiefe Symbiose, um die Kafka noch immer kämpfen zu müssen glaubt, als vollendete Tatsache umschließt: »Wir gehören unbedingt zusammen.« [212]
Doch sie lädt ihn nicht ein. Am 9.Dezember erwähnt Kafka zum letzten Mal die mögliche Reise nach Berlin, verknüpft sie sogar mit dem Gedanken an eine offizielle Werbung um die Ehe. Sie scheint verschreckt, kann sich zu einer Klärung nicht aufraffen, schweigt. Der entscheidende Satz, den Kafka jetzt gebraucht hätte – ›Bitte, komm endlich‹ –, bleibt aus. Erst in der Nacht zum 23.Dezember spricht er wieder von der Vorstellung, »dass ich in Berlin sein könnte, bei Dir, in meinem besten Schutz«, doch fast ist es schon zu spät zu einem Entschluss, und nur notdürftig beruhigt er sich damit, dass gerade an Weihnachten, da bei den Bauers wieder Verwandte aus- und eingehen werden, zu langen und ungestörten Gesprächen ohnehin kaum Gelegenheit bliebe. Das ist die letzte Rationalisierung, die Kafka noch braucht, um seiner Angst nachzugeben, und endlich beginnt die schwankende innere Waage sich zu neigen – nach der falschen Seite. Kafka reist nicht nach Berlin.
Er hat es sehr bereut, später. »1912 hätte ich wegfahren sollen«, klagt er auf einer Postkarte an Felice, und dass ihn diese Einsicht ausgerechnet am Weihnachtstag 1915 befällt, ist gewiss kein Zufall. Nicht nur als Besucher oder Bewerber, nein, für immer hätte er damals nach Berlin {249} gehen sollen. Nur Bequemlichkeit und die typische Furcht des Beamten vor Veränderung, so glaubt er, haben ihn damals davon abgehalten.
Es ist schwer, dem zuzustimmen, und vermutlich unterläuft Kafka hier eine Art Rückprojektion in die Vergangenheit. In seinen Briefen aus dem Dezember 1912 findet sich keine Spur von beamtenhafter Lethargie, dafür fast tägliche Hinweise auf den Teufelskreis einer depressiven self-fulfilling prophecy . Eben noch hatte er seinem Selbstbild die Gestalt des Ungeziefers verliehen, und seinen geistigen Zustand sah er an der Grenze zum Wahnsinn. Es schien ausgeschlossen, dass eine Frau ihn so, wie er tatsächlich war, verstehen und akzeptieren würde. Also musste das Nachgeben Felices, ihr liebevolles Sich-Öffnen, das er durchaus bemerkte, auf Selbsttäuschung beruhen. Es konnte nicht sein . Und dass sie auf den schon lose verabredeten Besuch in Berlin nicht mehr eingehen wollte, war der Beweis. Kafka verstand nicht, dass dieses Schweigen Ausdruck eines Konflikts war und dass die in der Familie Bauer eingeschliffene Strategie der Diskretion Felice dazu verleitete, Konflikte durch Schweigen zu erledigen. Dieses gleichsam habituelle Schweigen, in das sie bis zu ihrem Ende immer wieder verfallen sollte, war nicht Verstocktheit, sondern Unvermögen: Niemals hatte sie gelernt, Sätze zu sprechen, die
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