Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
eingesammelt und kaserniert hatte, bereits ein Viertel verbraucht war – getötet, gefangen, vermisst. Zu schweigen von den Hunderttausenden, die verwundet und daher in vorderer Linie nicht mehr einsatzfähig waren. Der Staat brauchte Nachschub. Er brauchte ihn umso dringender, als gerade jetzt neues Unheil heraufzog, das man den Blicken der Zeitungsleser vergeblich zu entziehen suchte: Das neutrale Italien, Bündnispartner auf dem Papier, war übergelaufen, verhandelte seit langem mit den Gegnern, die ihnen für den Fall des Kriegseintritts enorme Beute versprachen.
Damit drohte dem k. u. k. Heer das schlimmste denkbare Szenario: ein Krieg an drei Fronten, ein Krieg, der das Habsburgerreich vorhersehbar und vollständig zerrütten würde. Führende Militärs, darunter Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs und einer der aggressivsten Befürworter des Krieges, hatten es für unmöglich erklärt, gegen Russland, Serbien und Italien gleichzeitig standzuhalten, und sie hatten von Anbeginn gefordert, diesen Alptraum mit politischen Mitteln abzuwenden – kein Preis sei dafür zu hoch. Tatsächlich versuchte die österreichische Regierung beinahe verzweifelt, gute Stimmung in Rom zu machen: mit Angeboten, die derart großzügig und willfährig waren, dass sie vor der eigenen Bevölkerung verheimlicht werden mussten. Doch der Preis war mittlerweile gestiegen, die italienische Regierung pokerte immer höher, forderte nicht mehr nur das italienischsprachige Südtirol, sondern auch die Hafenstadt Triest, warf gar ein Auge auf Dalmatien und {61} Albanien. Und während in Wien noch darüber beraten wurde, ob die Erfüllung derartiger Forderungen nicht einer Kapitulation gleichkomme, wurden in Paris, London und Petersburg die Gegengebote laufend erhöht: militärische Rückendeckung zu Land und zur See, Kohlelieferungen, Kriegsentschädigungen in bar … Italien brauchte nur zu wählen, bezahlen würde am Ende der Gegner.
Nachrichten von diesen geheimen Verhandlungen gelangten bald auch nach Wien, und spätestens Mitte April wurde deutlich, dass es keinen Sinn mehr hatte, mit weiteren Zugeständnissen Italien vom Krieg abhalten zu wollen. Wir passen , beschied nun auch der Kaiser. Denn es sei doch wohl ehrenvoller, die Italiener einmarschieren zu lassen, als diesen Schacher fortzusetzen und vor den Augen der Welt Geschenke zu verteilen, die man später mit Waffengewalt würde zurückholen müssen.
Die Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn wurde am Nachmittag des 23.Mai 1915 übergeben, am Pfingstsonntag. Überrascht wurde davon niemand mehr, überraschend war allenfalls, dass der italienische König sich die Mühe machte, ein Dokument zu unterzeichnen, das aus völlig inhaltsleeren Sätzen bestand und das keinen einzigen konkreten Kriegsgrund zu nennen wusste – abgesehen davon, dass die Gelegenheit jetzt günstig sei, zu holen, was zu holen war.
Wenige Tage später fand sich Kafka um acht Uhr morgens auf der Prager Schützeninsel ein, deren weitläufige Restaurationsräume jetzt öfters militärisch genutzt wurden: als Versammlungsort der prospektiven Neuzugänge. Es war Feiertag, Glockentöne schwebten über der Stadt, nur wenige Menschen waren schon unterwegs entlang der Quais. Auf der Vergnügungsinsel aber fand sich Kafka unvermittelt in einem erregten, überwiegend tschechischen Stimmengewirr.
Wir wissen nicht, wie viele Stunden er hier zubrachte, ob er Bekannte traf, sich die Zeit mit Gesprächen oder mit Zeitungen vertrieb. Und ob er – durchaus naheliegend – die Erinnerung daran wachrief, dass er einstmals, genau an diesem Ort, eine ganz andere, eine sexuelle Initiation erwartet hatte. Gelegenheit zum Beobachten hatte er gewiss. Es war eine unwirkliche Szene. Denn Hunderte von Männern saßen und schwatzten um ihn her, die nicht, wie sonst in ihrer arbeitsfreien Zeit, dem Zugehörigkeitsgefühl von Sprache, Religion oder sozialem {62} Stand folgten, sondern die ein einziges, völlig abstraktes Kriterium zusammengeführt hatte: ihre jeweilige ›Landsturmklasse‹, einfacher gesagt: das Geburtsjahr. Alle hatten dasselbe Alter. Denn heute waren die 32-Jährigen an der Reihe.
Die Prozedur, die ihm bevorstand, war Kafka bereits vertraut, wenngleich seine letzten Erfahrungen mit der militärischen Kaste inzwischen mehr als zehn Jahre zurücklagen. Damals hatte die Armee darauf verzichtet, ihn als ›Einjährig-Freiwilligen‹ auszubilden, nach längerem Bedenken allerdings und nach
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