Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
herauslas [37] , was natürlich als hohes Lob gemeint, von der Intention der Texte jedoch so weit entfernt war, dass Kafka an der eigenen Ausdrucksfähigkeit ernstlich zweifeln musste.
Max Brod wiederum versuchte es mit Superlativen. »Er ist der größte Dichter unserer Zeit«, notierte er in seinem Tagebuch, nachdem ihm Kafka im April 1915 zwei Kapitel des PROCESS vorgelesen hatte. Er war schlechterdings überwältigt, und darum waren auch seine mündlichen Huldigungen keineswegs zurückhaltender. [38] Kafka jedoch, der die Wirkung seiner Texte durchaus zu genießen wusste, hatte keine Freude an solchen Zuschreibungen, die mit seinem Selbsterleben nichts zu tun hatten und die ihm daher nicht einmal schmeichelten. Gewiss, es war vorgekommen, dass er Autoritäten wie Grillparzer, Dostojewski, Kleist und Flaubert mit dem eigenen Schicksal ausdrücklich in Verbindung gebracht, sie gar als seine »eigentlichen Blutsverwandten« bezeichnet hatte. Aber doch nicht seiner Leistung wegen. Denn wann in der gesamten Literaturgeschichte hatte es jemals ein derartiges Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag gegeben? Wo einen großen Dichter, der keinen Roman, kein Schauspiel, keine klassischen Verse zustande brachte? Dem über Monate hinweg kein bewahrenswerter Gedanke begegnete? Der überirdische Ruhe brauchte, um einen wahren Satz zu finden? Allein der Vergleich war lächerlich, und selbst Brod hatte doch mittlerweile einsehen müssen, dass es nicht um bloße Charakterschwächen ging, um einen Mangel an Energie und Disziplin, nicht allein um die ängstliche, sterile Sorge des neurotischen Perfektionisten. Nein, das innere ›Material‹, die Imaginationskraft selbst war es, die Kafka immer wieder im Stich ließ, und dies war der Grund, warum ihm Brods Lobeshymnen so hohl klangen.
Den Vogel aber schoss Franz Werfel ab, der – was Kafka aufrichtig ärgerte – seit Jahren allerorten DIE VERWANDLUNG pries, die er doch nur vom Hörensagen kannte und um deren Manuskript er sich auch als Lektor bei Kurt Wolff niemals gekümmert hatte. Jetzt endlich, nachdem die Erzählung im Druck erschienen war, hatte er die Lektüre nachgeholt und war fassungslos. Er begriff, dass er Kafka, diesen schmalen Schatten hinter Max Brod, unterschätzt, ja völlig verkannt hatte. Und das wollte, das musste er ihm sagen, um alles wiedergutzumachen. Aber wie lobt man den Schöpfer eines solchen Textes? Werfel, ohnehin zum Pathos neigend, griff voll in die Tasten. Und er erzeugte ein Geräusch, das Kafka bis ins Mark dringen musste. Jenem ewigen, an der eigenen Sonne schmelzenden Jüngling, dem alles zuzufallen schien, ausgerechnet ihm, bar jeder Menschenkenntnis, {57} gelang der absurdeste, unschuldigste, roheste, wahrste Lobesbrief, der Kafka in seinem Leben zuteil wurde:
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich erschüttert bin, übrigens hat durch Sie meine Sicherheit einen heilsamen Stoß bekommen, und ich fühle mich (Gottseidank!) recht klein.
Lieber Kafka, Sie sind so rein, neu, unabhängig, und vollendet, daß man eigentlich mit Ihnen verkehren müßte, als wären Sie schon tot und unsterblich. So etwas fühlt man sonst bei keinem Lebenden.
Was Sie in Ihren letzten Arbeiten geleistet haben, gab es wirklich vorher noch in keiner Literatur, nämlich mit einer runden speziellen fast realen Geschichte, etwas allgemeines, sinnbildliches, von der ganzen Menschheit aus Tragisches darzustellen. Aber ich drücke mich ganz dumm aus.
Alle Menschen, die mit Ihnen beisammen sind, müßten das wissen, und Sie nicht wie einen Mitmenschen behandeln.
Ich danke Ihnen tief für die Ehrfurcht, die ich für Sie hegen darf.« [39]
Eigentlich schon tot. Kein Lebender. Jedenfalls kein Mitmensch. Geahnt, gefürchtet hatte das Kafka schon immer. Jetzt hatte er es schriftlich.
{58} Zivilist Kavka:
Die Arbeit des Krieges
Man muss die Dinge durchdenken.
Nicht vorher, versteht sich; sonst geschieht nichts.
Aber hinterher.
Juan Carlos Onetti, DAS KURZE LEBEN
GROSSER SIEG ÜBER DIE RUSSEN! – Seit langem schon hatte die staunende Prager Bevölkerung nicht mehr so riesige Zeitungslettern zu Gesicht bekommen, seit neun Monaten nicht mehr. Damals war es der Beginn eines Großen Krieges gewesen, der die Titelseiten der deutschen und tschechischen Tagespresse in Plakate verwandelte, und der ungewöhnliche Anblick der umlagerten Redaktionsgebäude, der mitten auf der Fahrbahn in neueste ›Extraausgaben‹ vertieften Passanten und die unausgesetzten Rufe
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