Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
dreimaliger Begutachtung. Erst dann war man davon überzeugt, dass der magere, hochaufgeschossene Student für körperliche Strapazen nicht geschaffen war. Eine friedliche, vergleichsweise sogar gemütliche Zeit, damals, am Beginn des neuen Jahrhunderts, eine Zeit, in der auch Kräftigere dem Militärdienst mit geringem Aufwand zu entrinnen vermochten. Und niemand hatte ahnen können, dass Österreich-Ungarn eines Tages auf die Untauglichen, die Nervösen, die Mageren doch noch würde zurückgreifen müssen.
Hier an die Wand bitte, kleiden Sie sich aus, eins einundachtzig, treten Sie vor, aufrecht, die Füße zusammen, irgendwelche Gebrechen?, Krankheiten in der Familie?, brauchen Sie Augengläser?, jetzt den Mund öffnen, Gaumen ohne Befund, Gehör ebenso, tief einatmen, die Arme nach vorn, waagrecht, jetzt hinter dem Rücken kreuzen, machen Sie eine Faust, stellen Sie die Beine auseinander und beugen Sie sich nach vorn … schließlich der gefürchtete Griff unter die Hoden … und das Urteil : auf Kriegsdauer tauglich für den Landsturmdienst mit der Waffe, Kategorie A, der nächste, další, prosím !
Kam es denn überhaupt noch auf Menschen an, auf Männer ? Die Politiker predigten es, die Militärs glaubten daran. So selbstverständlich sie die Kämpfenden als numerische Masse, als Formation von Leibern ins Kalkül zogen (das lernte man bereits auf der Kadettenschule), und so modern, so auf der Höhe der Zeit es ihnen schien, selbst die psychischen Eigenschaften des Einzelnen als Zerstörungspotenzial zu verrechnen (als besonders cool galt es, vom ›Charaktermaterial‹ der Untergebenen zu schwadronieren) – so befangen und inkonsequent wichen sie vor der Frage zurück, ob es nicht in Wahrheit auf die schiere Anhäufung von Waffen, Fahrzeugen und Rohstoffen ankam und ob nicht womöglich die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts {63} an Fließbändern entschieden würden. Das widersprach den atavistischen Kampfbildern, an denen man sich so gern erregte, und auch rudimentäre Ehrbegriffe wirkten noch immer bis in die technokratischen Spitzen der militärischen Hierarchie, die nicht selten der eigenen Propaganda aufsaßen. Noch zu Beginn des Weltkriegs gab es Generäle, die sich an den Gedanken nicht gewöhnen konnten, den Feind über große Entfernung hin zu töten, das heißt, ohne ihn zu sehen . [41] Und die Abneigung altgedienter Offiziere gegen Experimente mit völkerrechtswidrigen Waffen, vor allem mit Kampfgasen, war notorisch. Wir sind Soldaten, keine Kammerjäger .
Freilich, es gab Gründe, die Kriegstechnik gering zu schätzen, denn sie war lästig, unzuverlässig und wetterempfindlich, sie ersetzte keine Menschenkraft, sondern forderte im Gegenteil intensive Wartung und unablässiges Flicken und Basteln. 4000 Lastwagen setzten die Deutschen nach Westen in Bewegung, doch zwei Drittel davon blieben mit Pannen liegen, ehe sie die Marne erreichten – ein ganzer Schwarm von Mechanikern vermochte das nicht zu verhindern. Die in den Wochenschauen gefeierte ›Dicke Berta‹, ein Ungeheuer von einem Mörser, dessen Geschosse fast eine Tonne wogen, konnte nur auf Schienen transportiert werden, die in Frontnähe eigens verlegt werden mussten – gefährliche, tausendfach verfluchte Schwerstarbeit. Zu schweigen von den allerneuesten Erfindungen, die sich noch im embryonalen Stadium befanden und vielerorts mehr Gelächter als Schrecken auslösten: Niespulver-Granaten in Flandern, Tränengas an der Ostfront, Piloten, die lange Nägel abwarfen (›Fliegerpfeile‹) und mit Schrotflinten nach unten zielten, schließlich die ersten ›Tanks‹, schwerfällige, leicht zu erbeutende Dinosaurier, die mit ihren 28 Tonnen bei der ersten Gelegenheit im Schlamm oder in Erdfallen versanken.
Allerdings hatte man auch schon andere Erfahrungen mit der Technik gemacht, die Erfahrung einer absoluten, sich verselbständigenden maschinellen Übermacht, die den Einzelnen zur ohnmächtigen Verfügungsmasse erniedrigte. Vor allem die neuen, gutgekühlten Maschinengewehre mit bis zu zehn Schuss pro Sekunde erwiesen sich als infernalische Erfindung, die bereits in den ersten Kriegswochen unermessliche Opfer forderte und zu radikalem Umdenken zwang. Denn wenn ein einziger MG-Posten sich erfolgreich gegen Hunderte von Angreifern zur Wehr setzen konnte, dann hatte es offenbar keinen {64} Sinn mehr, die Zahlen der europaweit mobilisierten Soldaten und Offiziere gegeneinander aufzurechnen, um hier oder dort eine vorgebliche
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