Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
›Überlegenheit‹ zu beweisen.
    Immerhin war das zentnerschwere Maschinengewehr noch eine defensive, statische Waffe – man war vor ihm sicher, solange man im Graben verharrte und nicht selbst aktiv wurde. Umso nachhaltiger daher der zweite Technik-Schock, der die kämpfenden Truppen im Dezember 1914 ereilte: die Einführung des ›Trommelfeuers‹, das dem Einzelnen nun definitiv den letzten Schutz entzog, ihm keinerlei Zuflucht, ja nicht einmal mehr die Möglichkeit der Kapitulation bot. Trommelfeuer , das bedeutete tage- und nächtelangen, ununterbrochenen und präzise geplanten Artilleriebeschuss buchstäblich ›aus allen Rohren‹, eine physische und psychische Vergewaltigung des Gegners, der zu völliger Passivität verurteilt wurde und dem – ohne Schlaf, ohne Nahrung, ohne Sanitäter – nichts blieb, als auf den Tod zu warten. Damit war das gesamte militärische Erfahrungswissen obsolet, und zugleich war der Nachweis erbracht, dass es keiner Wunderwaffen aus dem Labor bedurfte, um den ›modernen‹ Krieg zu führen: Die quantitative Übermacht des Materials war es, auf die es ankam, und damit letztlich der Wettlauf der nationalen Industrien, denen fortan dieses Material in kaum vorstellbaren Mengen abverlangt wurde. Ein neuer Begriff war geboren: die Materialschlacht .
    So war denn auch jener GROSSE SIEG ÜBER DIE RUSSEN im Frühjahr 1915 keineswegs, wie der Bevölkerung weisgemacht wurde, das Ergebnis wagemutigen Kampfes; er verdankte sich vielmehr dem Einsatz einer Kriegstechnik, welche die Deutschen an der Westfront bereits erprobt hatten und die nun die Österreicher – unter deutscher Anleitung, de facto sogar unter deutscher Führung – erstmals gegen die weit nach Galizien eingedrungenen Russen richteten: heimliches Anhäufen von Artilleriemunition, Erfassen der gegnerischen Stellungen von Flugzeugen aus, danach zielgenaues Trommelfeuer, das nicht nur die vorderste Linie des Feindes, sondern dessen gesamtes Grabensystem in eine Todeszone verwandelte, es förmlich einebnete. Den russischen Truppen blieb nur die ungeordnete Flucht, und so wurde die Schlacht von Gorlice-Tarnów, eine an der Ostfront bisher ungekannte Orgie technisierter Gewalt, tatsächlich zum Auftakt eines deutschen und österreichischen Siegeszugs, der das seit Monaten {65} besetzte Galizien ›befreite‹ und der schließlich bis nach Warschau führte. Es gab viel zu feiern im Sommer 1915.

    Felice Bauer traute ihren Augen kaum. »Warum weisst Du nicht«, schrieb ihr einstiger Verlobter aus Prag, »dass es ein Glück für mich wäre, […] Soldat zu werden, vorausgesetzt allerdings dass es meine Gesundheit aushält, was ich aber hoffe.« Und er fuhr fort: »Du sollst wünschen, dass ich genommen werde, so wie ich es will.« [42]   Das war derselbe Mann, der sich die Ohren mit Wachs verstopfte, um den Geräuschen des Lebens zu entgehen, derselbe, den es vor ungelüfteten Zimmern und ungeordneten Betten ekelte, der auf einem eigenen Speiseplan beharrte und der sogar behauptet hatte, sein »körperlicher Zustand« – viel genauer erfuhr man es nicht – hindere ihn am Heiraten. Gewiss, sie war es gewohnt, dass Kafka übertrieb und mit phantastischen Optionen spielte, vor allem solchen der Flucht: Ausdem-Fenster-Springen, Kündigen, Auswandern. Und nun war offenbar das Soldat-Werden an der Reihe. Aber war das nicht geschmacklos und beinahe schon frivol, angesichts von Hunderttausenden, die den Krieg als gewaltsam auferlegte Qual erlebten? Dass dieser Kelch bisher an ihm vorübergegangen war – offenbar hatte sie ihn nichtsahnend dazu beglückwünscht und musste nun erfahren, dass er den Krieg in sein hypochondrisches Spiel längst einbezogen hatte.
    Doch Kafka war es durchaus ernst, und wie sich noch zeigen sollte, verfolgte er nun ausgerechnet dieses Projekt mit einer Beharrlichkeit, die ihm nach den Ereignissen des vergangenen Jahres, vor allem nach der mehr erduldeten als glücklich erwirkten Verlobung niemand mehr zugetraut hätte – am wenigsten wohl die Frau, die unter seiner Entschlussschwäche am meisten gelitten hatte. Vielleicht ahnte sie inzwischen, welche Energien Kafka zu mobilisieren verstand, wenn er von der existenziellen Bedeutsamkeit einer Sache überzeugt war. Aber warum gerade diese Sache? Das verstand niemand, und wenn Kafka von der Schützeninsel mit einem freudestrahlenden ›tauglich!‹ in die Wohnung der Familie zurückkehrte – so oder ähnlich muss es sich abgespielt haben –, dann traf er dort

Weitere Kostenlose Bücher