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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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gewiss niemanden an, der seine Genugtuung geteilt hätte. Natürlich war man patriotisch gesinnt, wie alle deutschen Juden. Doch vom einzigen Sohn sich verabschieden zu müssen, mit dem unausgesprochenen, doch unvermeidlichen Gedanken an Tod und ewige Trennung – das war etwas ganz anderes, {66} das hätte selbst dem Vater, der für alles Tschingderassabum so leicht zu entzünden war, Stunden einer heimlichen Verzweiflung beschert.
    Doch noch war es nicht so weit, neue Hemmnisse tauchten auf, und die ein wenig voreilig angeschafften Militärstiefel blieben zunächst im Schrank. Denn die Arbeiter-Unfallversicherung war, wie sich herausstellte, von der sozialen Nichtsnutzigkeit des Dr.Kafka keineswegs so überzeugt wie dieser selbst; sie dachte gar nicht daran, einen ihrer fähigsten und willigsten Beamten den Fängen der Militärs zu überlassen, die bereits genügend Lücken gerissen hatten und die mit ihrem Hunger nach Männern im besten Alter überdies verhinderten, dass die Versicherungsanstalt sich irgendwo qualifizierten Ersatz verschaffte.
    Das war umso schlimmer, als nun ausgerechnet im Jahr 1915 die Revision sämtlicher Mitgliedsbeiträge fällig war, das heißt die ›Neueinreihung‹ Tausender Betriebe in die verschiedenen ›Gefahrenklassen‹, und bereits seit Monaten hagelte es Beschwerden und Einsprüche gegen die jüngsten Bescheide (von denen nicht wenige die Unterschrift Kafkas trugen). Diese Berge von Korrespondenzen möglichst rasch abzuarbeiten lag im ureigensten Interesse der Versicherung – andernfalls hätte man den Unternehmern willkommenen Anlass geboten, ihre Zahlungen einzustellen. Es war also sachlich durchaus begründet, wenn die Behörde sofort nach Kafkas Musterung den Antrag stellte, diesen überaus tauglichen Beamten samt dem Mathematiker, der ihm zuarbeitete, vom Kriegsdienst freizustellen, da die beiden Herren »für die Besorgung von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses unentbehrlich und unersetzlich« seien. Dem Prager Militärkommando leuchtete das ein – wenigstens teilweise. Alois Gütling, der Büronachbar und Amateurdichter, wurde für weitere zwei Monate verschont, der anscheinend mehr im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehende Dr.Kafka hingegen »auf unbestimmte Zeit« – das heißt bis zu einer erneuten Überprüfung seines Falles. [43]  
    Damit hatte er rechnen müssen. Doch seine Enttäuschung konnte er niemandem begreiflich machen, offenbar auch Felice Bauer nicht, die ihn doch besser hätte kennen müssen als die ewig nur um den eigenen Clan besorgten Eltern. Unschwer lässt sich ausmalen, warum jenes letzte Treffen in Karlsbad, nur wenige Tage, nachdem die Entscheidung über Kafkas nächste Zukunft gefallen war, in Missstimmung, wahrscheinlich sogar im Streit enden musste: Er brachte {67} wieder einmal Grundsätzliches vor, ohne hinreichend konkret zu werden, Felice aber artikulierte den praktischen Menschenverstand, in dessen Licht Kafkas neuerlicher Ausbruchsversuch als unvernünftig, sozial verantwortungslos, wenn nicht gar selbstmörderisch erscheinen musste. Und traute sie ihm überhaupt zu, ein Leben in Uniform zu ertragen? Sie wird es sich nicht versagt haben, auch diese Trumpfkarte zu spielen.
    Der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Kafka hatte mit Felice vereinbart, den gemeinsamen Urlaub an der Ostsee, der ja bereits im vergangenen Jahr, vor dem Eklat im Askanischen Hof, geplant gewesen war, jetzt endlich nachzuholen: die erste gemeinsame Reise, ein erstes Zusammenleben auf Probe, ganze drei Wochen lang – vorausgesetzt natürlich, dass Kafka entgegen seinem dringlichen Wunsch Zivilist und damit einigermaßen beweglich blieb. Diese Bedingung war nun erfüllt, und Kafka verließ Prag tatsächlich – allein . Noch im Juli 1915 – die Musterung, die Reklamation, das Treffen in Karlsbad, all das lag nur wenige Wochen zurück – erhielt Felice Bauer unverhofft eine Postkarte aus Rumburg im nördlichsten Böhmen: Er habe es nicht mehr ausgehalten in der Stadt, es sei ihm beinahe gleich gewesen, wohin, zuerst habe er an den Wolfgangsee fahren wollen, aber das hätte siebzehn Stunden Bahnfahrt bedeutet, und so sitze er nun eben im Sanatorium ›Frankenstein‹. Für zwei Wochen nur, dann bliebe ja noch immer eine gemeinsame Woche im Herbst, »schlechtesten Falls«. Das war ein schwacher Trost, doch Felice Bauer fand sich rasch mit der Situation ab und kündigte einen Brief mit neuen, bescheideneren Reiseplänen an. Sinnlos,

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