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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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der Zeitungsjungen signalisierten, dass etwas Ungeheuerliches geschehen war. Danach aber waren die Schlagzeilen wieder auf ihr gewöhnliches Format geschrumpft, der mühselige Alltag des Krieges hatte begonnen, begleitet von dem monotonen Geraschel täglich Hunderter, zumeist wenig besagender Meldungen, in denen das Wort ›Friede‹ immer seltener auftauchte.
    Es bedurfte einer gewissen Übung, um diesen Meldungen zu entnehmen, was eigentlich los war. Man musste sie aneinanderfügen wie Mosaiksteine, man musste darauf achten, wovon sie nicht sprachen, man musste die großen weißen Flecken studieren, welche die Kriegszensur hinterließ, und man musste lernen, die verordneten Phrasen des Generalstabs in menschliche Sprache zu übersetzen – erst dann wurden die Konturen einer Katastrophe sichtbar. Denn Österreich-Ungarn war dabei, einen Weltkrieg zu verlieren. Die ›Strafexpedition‹ gegen Serbien hatte mit einem Debakel geendet, und in der galizischen Provinz machten sich russische Truppen breit, trieben österreichische Infanterieregimenter und jüdische Flüchtlinge vor sich her.
    Allmählich begriffen die Leser, dass es keinen Sinn mehr hatte, nach {59} der einen, großen, glückverheißenden Schlagzeile Ausschau zu halten. Stattdessen lernte man, das Kleingedruckte zu studieren: Listen von ›Gefallenen‹, alphabetisch sortiert, spaltenlang, Tag für Tag; daneben die Namen der Überlebenden, die befördert oder mit Orden geehrt worden waren; auf der nächsten Seite die Suchmeldungen zerstreuter Flüchtlingsfamilien. Der Wirtschaftsteil, von den meisten bisher überblättert, war jetzt Pflichtlektüre: Hier stand verzeichnet, welche Lebensmittel es auf Bezugsmarken gab, welche nur mehr zu entsetzlichen Preisen und welche überhaupt nicht mehr. Ein Ei: 14 Heller. Ein Pfund Butter: 3 Kronen. Ein Kilo Rindfleisch: 5 Kronen. Erdbeeren, Pfirsiche, Kirschen: Gedankenstrich, das hieß: nur auf dem Schwarzmarkt. [40]   Es waren schlimme, aber wenigstens verlässliche Auskünfte, kein Zensor wagte hier einzugreifen.
    Ansonsten erfuhr man, dass irgendwo ein Hügel ›genommen‹, ein Frontabschnitt ›begradigt‹, einige Geschütze erbeutet und einige hundert Gefangene ›gemacht‹ worden waren. Nachrichten, die Hoffnung vermittelten, blieben seit langem aus, allenfalls durfte man sich an den militärischen Erfolgen der Deutschen erfreuen, die tief in Frankreich kämpften, die den Armeen des Zaren vernichtende Schläge versetzten und deren U-Boote einen englischen Kreuzer nach dem anderen versenkten. Doch das waren Ereignisse weit außerhalb des eigenen Erfahrungsraums, und es war nicht zu erkennen, dass sie den allgemeinen sozialen Niedergang auch nur verlangsamt hätten. Offenbar ernteten ja nicht einmal die Deutschen selbst die Früchte ihrer pausenlosen Siege. Sie verteilten Brotkarten, nicht anders als ihre österreichischen Bundesgenossen, und Reisende aus Berlin wussten zu berichten, dass die Stadt ebenso schmutzig und teuer war wie Prag, Wien und Budapest und dass man sich auch dort an den Anblick von Prothesen und Rollstühlen zu gewöhnen begann.
    Der Krieg war gleichförmig und grau geworden. Und so klang es wie ein ferner Weckruf, der an das Ohr eines halb Betäubten drang: GROSSER SIEG ÜBER DIE RUSSEN! War es ein Traum, ein Gerücht, ein Versehen? Offenbar nicht. Denn als die Prager am nächsten Morgen an ihr Tagewerk gingen, fanden sie die Stadt im Fahnenschmuck.

    Wenn Kafka an jenem 3.Mai 1915 den Blick über die Titelseite des Prager Tagblatts schweifen ließ, dann stieß er am unteren Rand, im {60} Schatten der Siegesmeldung, auf eine zweite Schlagzeile, die weitaus unauffälliger, dafür aber, wie er gewiss sofort bemerkte, an ihn persönlich adressiert war: »Neuerliche Musterung der Landsturmklassen 1878–1894«. Diese Jahrgänge, so wurde amtlicherseits ausgeführt, seien zwar zu Beginn des Krieges bereits gemustert worden. Doch habe sich inzwischen herausgestellt, dass die ärztlichen ›Stellungskommissionen‹ der verschiedenen Standorte nach recht unterschiedlichen Maßstäben verfahren seien. Das habe zu Ungerechtigkeiten geführt, die man nun korrigieren wolle.
    Eine Lüge, die noch der einfältigste Patriot durchschauen musste. Seit wann waren Behörden, gar militärische, an Gerechtigkeit interessiert? Die einfache Wahrheit lautete, dass von den mehr als fünf Millionen Männern, von jenem ungeheuren Menschenmaterial, das man seit August 1914 allein in Österreich-Ungarn

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