Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
ohnehin ein Privileg, das dem Pflichtgefühl des Beamten widerstrebe. Oder, drittens, sofortige Kündigung (spätestens jetzt musste Pfohl begreifen, dass es ernst war), doch das komme aus familiären Gründen derzeit leider nicht in Frage. Schließlich, viertens, der vielleicht befreiend wirkende Militärdienst, der jedoch voraussetzte, dass die Arbeiterunfallversicherung ihren leitenden Beamten Kafka entließ, das heißt, dessen ›Reklamation‹ beim Militärkommando unverzüglich zurücknahm. [48]
Das war starker Tobak, und noch am folgenden Tag war Kafka stolz darauf, zum allerersten Mal öffentlich das Wort ›Kündigung‹ über die Lippen gebracht und damit »fast officiell die Luft in der Anstalt erschüttert« zu haben – was keineswegs übertrieben war, denn tatsächlich war es weitaus wahrscheinlicher, dass ein Beamter aufgrund dienstlicher Überlastung verrückt wurde oder sich das Leben nahm, als dass er freiwillig auf seine Pension verzichtete. Kafka hatte ein Tabu gebrochen. Allein es half wenig. Mochte er die Luft erschüttern, sein Chef blieb standfest. Denn Pfohl kannte ja die nervösen {70} Beschwerden und Schwankungen seines Stellvertreters seit langem, und er wusste, dass Kafka durch moralischen Druck zu beeinflussen war. Auch er selbst, entgegnete er, sei ernsthaft krank und müsse sich dringend einer Behandlung mit blutbildendem (und entsetzlich teurem) ›Hämatogen‹ unterziehen, sei es auch nur für eine Woche. Ob man diese Kur nicht gemeinsam machen könne? Ginge Kafka für länger oder gar für immer, dann sei doch die Abteilung »verwaist« und »breche zusammen« … Also ins Sanatorium, mit dem eigenen Vorgesetzten. Und kein Wort über den Militärdienst. Kafka lehnte dankend ab.
Den zweiten Angriff, besser durchdacht und noch besser vorbereitet, trug er einige Monate später an höherer Stelle vor. Auch im Jahr 1916, so war amtlicherseits verlautet, hatten die ›Reklamierten‹ keinerlei Anspruch auf Urlaub, allenfalls ausnahmsweise und nur für wenige Tage. Diese Hiobsbotschaft, die natürlich von allen Betroffenen längst erwartet worden war, nahm Kafka zum Anlass, ein Schreiben an den Direktor zu richten, in dem er wiederum die eigenen zerrütteten Nerven anführte, die Zahl möglicher Entscheidungen aber wohlweislich auf zwei reduzierte, um weitere Ausflüchte zu erschweren: Entweder, so Kafka, sei der Krieg in diesem Herbst zu Ende, dann bitte er um einen langen, sehr langen Urlaub, und zwar ohne Gehalt, denn seine Krankheit sei ja nicht organisch manifest und darum auch amtsärztlich nicht nachweisbar. Oder aber der Krieg dauere an, dann wolle er Militärdienst leisten und bitte daher erneut um Aufhebung der Reklamation.
Drei Tage später, am 11.Mai 1916, empfing Direktor Marschner seinen Angestellten zum Gespräch. Seit langem hatte sich zwischen ihnen eine noch nicht freundschaftliche, aber doch vertrauensvolle Beziehung entwickelt, gefördert durch die beiderseitigen literarischen Interessen und sicherlich auch durch Kafkas dienstliches Verantwortungsbewusstsein. Hier durfte auch ungeschützt Privates zur Sprache kommen – stillschweigende Voraussetzung sowohl des Briefs wie auch des Gesprächs, denn formell an die Behörde zu appellieren, einen ihrer besten Leute freizugeben, wäre völlig aussichtslos gewesen.
Diese Lizenz zur Intimität, auf die Kafka baute, machte sich nun aber auch Marschner zunutze, und obwohl Kafka sich dessen völlig bewusst war, dass es heute um nichts weniger als um sein Leben ging – {71} er vermerkte das ausdrücklich im Tagebuch –, sah er sich unerwartet einer Situation ausgesetzt, die objektiv komisch war. Denn Marschner war bestens präpariert, hatte sich offenbar mit Pfohl abgesprochen und übernahm dessen erfolgreiche Strategie, Kafkas aberwitzige Pläne zu ignorieren und stattdessen sein Gewissen zu wecken. Er bot ihm drei Wochen Urlaub an und redete ihm zu, sofort zu pausieren – wohl wissend, dass diese Offerte gegen die Bestimmungen verstieß und dass auch Kafka dies wusste . Marschner war also bereit, für Kafkas Erholung ein persönliches Risiko auf sich zu nehmen. Dabei, fuhr Marschner fort, sei es doch wohl eher seine eigene, ungleich verantwortlichere Position, die geeignet sei, krankzumachen. Habe denn Kafka jemals elf Stunden gearbeitet, habe er jemals um seine Stellung oder Laufbahn zu fürchten brauchen? Er hingegen, Marschner, habe sich gegen »Feinde« durchsetzen müssen, die fest entschlossen waren, ihm den
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