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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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entgegnete Kafka, auch diese eine letzte Woche müsse nun leider entfallen. Denn Beamte, die als unentbehrlich reklamiert seien, erhielten ab sofort überhaupt keinen Urlaub mehr. [44]  
    Und damit war das Kapitel ›1915‹ abgeschlossen. Wieder ein Ende, wieder ein Abschied. Ein volles Jahr sollte es dauern, ehe sie sich wiedersahen, und nichts, gar nichts deutete darauf hin, dass diesem Paar noch ein Wunder beschieden war.

    Kafkas Aufenthalt in Rumburg – von Ferien zu sprechen wäre wohl allzu euphemistisch – hat in seinen Aufzeichnungen nur wenige Spuren hinterlassen, und von der Vorfreude auf ein freieres und naturnäheres Leben, mit der er noch drei Jahre zuvor an die Pforte des {68} legendären ›Jungborn‹ geklopft hatte, war nicht viel mehr geblieben als das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. Die ›physikalischdiätetische Kuranstalt Frankenstein‹, keine dreißig Minuten entfernt von der Stadt und im gleichnamigen Ortsteil gelegen, hatte er einfach deshalb gewählt, weil es – da kannte er sich aus – unter den wenigen erträglichen Häusern in Böhmen noch das beste war und weil man tatsächlich an jedes denkbare fernere Ziel, das zugleich schön, unvertraut und einigermaßen behaglich war, im Krieg nur noch unter Strapazen oder überhaupt nicht mehr gelangen konnte. Rumburg war ein Ausweichquartier – und für Kafka geradezu das Sinnbild seines bürokratisch überwachten Lebens, denn die Stadt lag in einer Ausbuchtung Böhmens in Richtung Deutschland, und darum endete die Gültigkeit seiner Papiere im Westen, Norden und Osten bereits nach wenigen Wegstunden.
    Die hügelige Umgebung, die scheinbar endlosen, stillen Wälder gefielen ihm; eine milde, beruhigende, beinahe tröstlich wirkende Landschaft. Dennoch benötigte Kafka nur wenige Tage, um zu begreifen, dass die Flucht überhastet und das Ziel nicht sonderlich klug gewählt war. Denn zum einen gehörte der Verwaltungsbezirk Rumburg zu seiner beruflichen Zuständigkeit, und wenn Kafka von einem der zahlreichen Aussichtspunkte auf das Industriestädtchen hinabblickte, dann war es unvermeidlich, dass ihm die hier ansässigen 303 Betriebe in den Sinn kamen, die man erst kürzlich wieder hatte ›einreihen‹ und anschreiben müssen, oder die 62 Mahnungen und acht Strafanzeigen, die seine Abteilung im vergangenen Jahr nach Rumburg abgefeuert hatte, oder die (gottseidank) nur sieben Rumburger Beschwerdeverfahren, die auf seinem Schreibtisch zirkulierten … er kannte diese Zahlen nur allzu genau, und unvermeidlich tauchten sie den Ort in die Farbe des Alltags. [45]  
    Zum anderen war es ein denkbar ungünstiger Augenblick, sich der Sorge um den eigenen Körper auszuliefern, jener Regression, welche die eigentliche Lockung der Sanatorien ist. Liegekuren, Diäten, Heilbäder und ärztliche Anleitung – all das erschien Kafka plötzlich als eine von Pseudoaktivitäten erfüllte Scheinwelt, die nicht Entspannung, sondern nichtige Wiederholung bot, »fast ein neues Bureau im Dienst des Körpers« [46]   , und daher reinen Gewissens nur zu ertragen für den, der wirklich krank ist, das heißt: krank in den Augen der anderen. Davon aber wollte Kafka nichts hören, nicht jetzt. Er war {69} felddiensttauglich, was also hatte er in einem Sanatorium zu suchen? Seinen Plan, zum Militär zu gehen, hatte er noch keinesfalls aufgegeben, und unsichtbare Krankheiten kannte und akzeptierte man dort nicht. » … ich werde niemals mehr in ein Sanatorium gehen« [47]   , wusste er bereits nach wenigen Tagen, und dabei blieb er – solange es in seiner Macht stand.

    Der erste Ansturm erfolgte an Heiligabend 1915. Kafka war gut gerüstet, er hatte sich in der Nacht zuvor nicht nur jedes Wenn und Aber zurechtgelegt, sondern sich selbst geschworen , offen zu sprechen und sich keinesfalls mehr abwimmeln zu lassen. Und so trat er seinem Vorgesetzten mit offenem Visier entgegen: Eugen Pfohl, dem Leiter der Betriebsabteilung.
    Sein nervlicher Zustand, brachte Kafka mit gewohnter Genauigkeit, jedoch ganz ungewöhnlicher Bestimmtheit vor, lasse ihm nur noch die Wahl zwischen vier Möglichkeiten: Entweder alles bleibe so, wie es ist, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Herzflattern, dann werde das irgendwann mit »Nervenfieber, Irrsinn oder sonstwie enden« (wobei dieses sonstwie schon die stärkstmögliche Drohung war). Die Alternative, noch einmal Urlaub zu nehmen, sei keine wirkliche Lösung (Rumburg hatte es bewiesen) und wäre unter den Bedingungen des Krieges

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