Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
man kann sich Kafka nur schwer vorstellen beim kollektiven ›Heldenfrisieren‹, wie das Ausschmücken glorreicher Kriegstaten zum Zweck der Presseverwertung genannt wurde: Hätte einer jener zahlreichen Schriftsteller und Journalisten, die es sich dank Protektion ›gerichtet‹ hatten und die nun ihrem Kaiser als Werbetexter des Krieges dienten, aus moralischem Ekel um Rückversetzung zur Truppe gebeten, es wäre nur allzu verständlich gewesen. [55] Doch Kafka kannte ohnehin niemanden, der ihn im Ernstfall aus der Feuerzone herausholen und an irgendeinen frontfernen Schreibtisch hätte transferieren können. Mit Männern von politischem oder militärischem Rang hatte er allenfalls einen dienstlichen Händedruck gewechselt, und so wäre er der mehrmonatigen ›Abrichtung‹ in einer Kaserne nebst anschließender ›Einwaggonierung‹ und ›Überstellung‹ an die Isonzofront wohl kaum entronnen. Dass Kafka an seinem 34. Geburtstag noch am Leben war, hatte er mit hoher Wahrscheinlichkeit Pfohl und Marschner zu verdanken. Wusste er das nicht?
Auch wenn seine Tagebücher und Briefe kaum etwas davon preisgeben – über die Realität des Krieges hat Kafka spätestens 1915 en detail Bescheid gewusst, über die Natur dieses Krieges von Anbeginn. Auch bei ihm, nicht anders als bei Rilke, setzte die Ernüchterung mit dem Anblick des erhitzten Kollektivs ein, und bereits die zweite patriotische Kundgebung, die auf dem Altstädter Ring unmittelbar unter seinen Fenstern lärmte, durchschaute er als organisiertes Spektakel. [56] Dann kamen die Nachrichten aus erster Hand, die aufgeregten Schilderungen der beiden Schwager und gewiss auch manches Kollegen aus der Versicherung; die Berichte Hugo Bergmanns, Otto Brods und anderer Prager Zionisten, von denen nicht wenige sich freiwillig gemeldet hatten; die entsetzlichen Erlebnisse der jüdischen Flüchtlinge aus Galizien, die bereits im Herbst 1914 für Ernüchterung sorgten; die Erfahrungen des schreibenden Arztes Ernst Weiß in Lazaretten der Etappe; schließlich die Notizbücher {76} Kischs und Werfels, aus denen in halböffentlichem Kreis vorgetragen wurde. Was ihn an der italienischen Front erwartete, vor allem im Gebirgskrieg, dessen Grausamkeiten längst die Einbildungskraft sprengten, das konnte Kafka schließlich auch von Musil erfahren, der im April 1916 in einem Prager Spital behandelt wurde und der ihn mindestens einmal besuchte.
Selbst unter den Prager Schaulustigen, die sich um den besenreinen ›Schauschützengraben‹ drängten, glaubten wohl nur noch wenige daran, hier werde ein realistischer Eindruck des Krieges geboten, und Kafka gewiss nicht. Er wusste, dass das österreichische Heer nicht nur kämpfte, sondern auch Seuchen verbreitete, die Bevölkerung drangsalierte und ›zur Abschreckung gegen Spione‹ Menschen an Laternenpfähle und Bäume hängte – auf bloßen Verdacht. Er wusste von Hunger, Erfrierungen, Schlafentzug, überfüllten Lazaretten, von Frontbordellen und Gasgranaten, und selbst wenn er sich gelegentlich die Ohren verstopft hätte: Es gab zu viele Zeugen dieser Gräuel, bei weitem zu viele, in jedem Kaffeehaus saßen sie, da halfen auch die am Nebentisch lauernden Polizeispitzel nichts mehr (die Hašek so gern veralberte). Es war schlechterdings unmöglich, nichts zu erfahren, nichts zu wissen, und bereits 1915 gaben selbst die Zensoren den Versuch auf, die sinnliche Realität des Krieges von den Lesern der Tagespresse fernzuhalten. [57] Auch Kafkas kurze Reise in die ungarische Etappe, wo er – zum ersten und einzigen Mal – eine völlig vom Militär beherrschte Szenerie erlebte, war durchaus keine Reise ins Ungewisse: Denn wie es dort aussah, zwischen Sátoralja-Ujhely und der Karpatenfront, das hatte er wenige Wochen zuvor in den Weißen Blättern zweifellos nachgelesen. [58] Und das war noch nicht alles. Denn seit neuestem gab es für die zurückgebliebenen Beamten der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt auch einen Dienstweg zum Krieg, einen Weg, der nicht in die Hölle hinein, aber nahe genug an sie heranführte.
» Chemische Industrie: Leute ohne Arm oder Fuß können Kanzleidiener, Torwächter oder Wagemeister sein.
Dachdecker: Beindefekte oder -deformitäten disqualifizieren.
Färber : Fehlen eines Armes oder Unterarmes macht unverwendbar. (Kunstfuß mit Stelze nicht verwendbar.)
Friseure, Raseure und Perückenmacher: Leute sind noch zu verwenden beim Fehlen des kleinen Fingers oder eines Auges, sofern das
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