Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
seinen FÜNF GESÄNGEN begleiten wollte. »Heil mir, daß ich Ergriffene sehe … « hieß es dort. Jetzt weiß er: Es ist »Menschenmache«. [51]
Rilkes Notate sind bedeutende Zeugnisse vor allem deshalb, weil er den Prozess der Ernüchterung nicht nur erleidet, sondern auch reflektiert. Er vergisst nichts, er spricht aus, was andere nur um den Preis der Verdrängung oder der eklatanten Unaufrichtigkeit ertragen: wie etwa Stefan Zweig, der sich bereits am ersten Kriegstag der Propaganda andient, dabei innerlich jedoch »als Weltbürger gesichert« bleibt, wie er noch Jahrzehnte später beteuert [52] ; oder wie Hugo von Hofmannsthal, dem es »viel Freude« macht, sich »einen geschliffnen Säbel« umzuschnallen, der zur selben Stunde alles Erdenkliche in Bewegung setzt, um dem Dienst an der Front zu entrinnen, und der nach erfolgreicher Intervention einflussreicher Freunde das »gräßliche marternde Gefühl« beklagt, »nicht mit dabei zu sein«. [53]
Rilke wusste beinahe von Anbeginn, dass er nicht dabei war, ja mehr noch, dass es weder auf ihn noch auf irgendeinen Einzelnen mehr ankam. Er brauchte sein Entsetzen nicht zu bemänteln, als er im November 1915 unversehens für tauglich erklärt wurde und wenige Wochen später zur Ausbildung beim Wiener Landwehr-Schützenregiment Nr. 1 tatsächlich einrücken musste. Doch er hatte Glück, für diesmal hatte die k. u. k. Monarchie ein Einsehen. Noch im Januar 1916 wurde Rilke dem Kriegsarchiv überstellt, wo man ihn mit dem Beschriften von Karteikarten und dem Linieren von Papier beschäftigte.
Kafkas Beharren auf der Option des Kriegsdienstes zählt zu den am schwersten verständlichen, einer bloß psychologisch motivierten Einfühlung überhaupt nicht nachvollziehbaren Entscheidungen seines Lebens. Begreiflicher schiene uns ein Akt der Verzweiflung, ja die momentane Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Schicksal – und Kafka wäre nicht der Erste, der in der Kaserne unterkriecht, ohne einen Gedanken. Doch das ist es nicht; die Vorstöße, die er unternimmt, sind durchdacht, zielstrebig, sogar energisch, und sie werden über Jahre hinweg wiederholt: Er will es erzwingen. Selbst das begütigende Zureden Marschners, der den verblendeten Untergebenen vor Verwundung und Tod bewahren will, der sich weigert, Kafkas Wunsch auch nur zu erörtern, ja, der nicht einmal dessen schriftliche Eingabe zu den Akten nimmt – selbst Marschner, der für Kafka unzweifelhaft eine Autorität ist, kann ihn nicht dazu bestimmen, von seinem Vorhaben abzulassen.
»Ich werde an Folgendem festhalten: Ich will zum Militär, diesem 2 Jahre verhaltenen Wunsch nachgeben; aus verschiedenen Rücksichten die nicht meine Person betreffen, würde ich, wenn ich einen langen Urlaub bekäme, diesen vorziehn. Das ist aber wohl aus amtlichen wie militärischen Rücksichten unmöglich.« [54]
Eine Notiz, entstanden wenige Stunden nach jener entscheidenden Unterredung. Kafka zeigt sich, wie so häufig, beeindruckt, ohne sich im mindesten beeinflussen zu lassen. Doch die Gegenkräfte sind übermächtig, und es hilft ihm nichts, dass er den Kampf mit den eigenen Skrupeln für diesmal gewonnen und seinen Willen selbstbewusst artikuliert hat. Den langen Urlaub wird er bekommen, mehrfach sogar – wenngleich aus Gründen, die er noch nicht ahnen kann –, eine Uniform hingegen wird er niemals tragen. Zwar wird Kafka noch im August 1916 dem ›k.u.k. I.-R. Nr. 28‹ zugeteilt (ausgerechnet jenem berüchtigten Prager Infanterieregiment, das im Vorjahr wegen massenhafter Desertionen zeitweilig aufgelöst war), doch nur, um am selben Tag wiederum vom Kriegsdienst zurückgestellt zu werden, offenbar auf neuerlichen Antrag der Arbeiter-Unfallversicherung. Marschner, der teilnehmende Direktor, bleibt unnachgiebig, und so wiederholt sich das Spiel auch in den folgenden Jahren: Am 23.Oktober 1917 enthoben bis 1.Januar, am 2.Januar 1918 enthoben bis 30.Juni, danach wird auf eine Mitwirkung des Zivilisten Kavka (so steht es im Musterungsblatt) endgültig verzichtet.
Er hat es nicht als Glück empfunden, nicht einmal als ein Stück geschenkter Freiheit. Und er muss gewusst haben, welchen Gegensatz er damit verkörperte zur Kaste der österreichischen Literaten, die – ob patriotisch gesinnt oder nicht – mit solchem Nachdruck ins Kriegsarchiv, zum Kriegspresseamt, ins Kriegsfürsorgeamt oder zu anderen ungefährlichen Schreibdiensten drängten, dass darüber schon bald gewitzelt wurde. Freilich,
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