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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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zweite vollkommen {77} gesund ist. Verunstaltung des Gesichtes, auch das Tragen von Augengläsern bringt Berufsunfähigkeit mit sich, da der Anblick von verletzten oder verunstalteten Friseurgehilfen Kunden fernhielte.
Hilfsarbeiter: Verwendung möglich beim Fehlen eines Fußes, eines Auges, des Kiefernapparates.
Kartonagezuschneider: Ein Auge genügt. Fehlender linker Fuß müßte durch künstliches Bein ersetzt werden.
Mechaniker: Beide Arme notwendig. Feinmechaniker können einarmig sein. Photographen: Retoucheure oder Kopisten können den linken Arm oder einzelne Finger sowie ein Auge entbehren.
Tischler: Beim Fehlen eines Armes keine Verwendung, wohl aber wenn bloß die Hand fehlt. Nicht hinderlich ist das Fehlen eines Auges oder des Kiefers. Zahntechniker: Muß beide Hände haben, kann aber künstliche Beine besitzen.« [59]  
    Bis zum Herbst 1914, so scheint es, galt die militärische Tat wesentlich als ein Spiel auf Leben und Tod: Man tötete unter dem steten Risiko, selbst getötet zu werden, und schon die Teilnahme an diesem Spiel versprach Ehre und Ruhm. Denn auch der Verlierer, der ›Gefallene‹, verbuchte einen symbolischen Gewinn: Er starb den ›Heldentod‹, ganz gleich, ob seine letzte Aktion sinnlos und selbstmörderisch war – wie bei den zum deutschnationalen Mythos stilisierten ›Helden von Langemarck‹, die in Wahrheit ahnungslose Gymnasiasten waren –, oder ob er auf der Latrine von einer Granate zerrissen wurde. Er war Held allein deshalb, weil er im Dienst der gemeinsamen, das heißt der richtigen Sache sein Leben und damit den denkbar höchsten Einsatz gewagt hatte. So stand es in allen Schulbüchern, und die amtlichen Kondolenzschreiben an verzweifelte Ehefrauen und Mütter boten es als den einzigen Trost, der hier noch verfangen konnte, als Trost des kollektiven, dankbaren Gedächtnisses. Noch weit entfernt war man von jenem Heldentum raubtierhafter Selbsterhaltung, wie es sich dann post festum in Ernst Jüngers STAHLGEWITTERN aufspreizte.
    Indessen war es eine der ersten Lehren des Weltkriegs, dass man auf sehr verschiedene Weise nicht nur ›fallen‹, sondern auch überleben kann, und diese zusätzliche Komplikation beraubte den Begriff des Heldentums seiner ohnehin fadenscheinigen Aura. Es sprach sich herum, dass einer, der sein Leben in die Waagschale wirft, damit auch einen Bauchschuss, einen weggerissenen Arm, eine Querschnittslähmung oder ein zerfetztes Antlitz riskiert, und so trivial diese Erkenntnis scheinen mag: Sie war ernüchternd. Denn beide {78} Gruppen – die Kombattanten selbst wie auch deren Angehörige – waren sich ja grundsätzlich darin einig, an diese Risiken so wenig wie möglich zu rühren, und die infantile Überzeugung, dass etwas Derartiges nur andere treffen könne, war in den Schützengräben Europas ein geradezu pathologisch verbreitetes Phänomen. Zu schweigen von den Verwaltern und den Ideologen des Krieges, denen ein ›Gefallener‹ weitaus lieber war als ein Schwerverwundeter, der Unterhalt kostete und überdies als leibhaftige Mahnung im Gesichtsfeld der Öffentlichkeit ständig präsent blieb.
    Die symbolische Überfrachtung des Todes, vor allem aber die einvernehmliche Verdrängung der Verletzungsrisiken war eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass die Gesellschaft vom Ausmaß auch dieser Kriegsfolgen völlig überrascht wurde. Man glaubte sich hinreichend gerüstet: Schließlich gab es Sanitätsbataillone, Feldlazarette und Militärspitäler, es gab den Malteser-Ritterorden und die völkerrechtlich besonders geschützte Arbeit des Roten Kreuzes, und für alles, was übers Medizinische hinausging, sorgte die – allerdings schon deutlich weniger populäre – ›Kriegskrüppelfürsorge‹. Auf die Bewältigung eines Massenphänomens war jedoch keine dieser Institutionen vorbereitet, erst recht nicht auf die Bewältigung der sozialen Konsequenzen, die nur widerwillig und unter dem massiven Druck der Ereignisse endlich zur Kenntnis genommen wurden.
    Im Februar 1915 wurden durch einen Erlass des k.k. Innenministeriums die Filialen der Arbeiter-Unfallversicherung damit beauftragt, zusätzlich zu ihren sonstigen Aufgaben sich um die »Fürsorge für die heimkehrenden Krieger« zu kümmern. Ein administrativer Einfall, der aus der Not geboren war – es war keine Zeit mehr, neue soziale Netze zu installieren, also griff man auf die vorhandenen zurück –, der aber auch von einer sozialpolitisch durchaus feinsinnigen Logik zeugte. Denn die

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