Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
»Lebensast« anzusägen. Das mache krank.
Kafka schwankt. Erinnerte das Ganze nicht fatal an den Vater, der, mit berechtigten Klagen konfrontiert, ebenso wie Pfohl und jetzt wieder Marschner sich ans schwache Herz griff und mit der eigenen Leidensgeschichte jeden Widerspruch erstickte? Und warum kein Wort über das Schreiben? War es denn möglich, dass Marschner, der die literarischen Leistungen seines Untergebenen kannte und schätzte, das Leid eines jahrelangen Verstummens für irrelevant hielt?
Kafka fasst den letzten Zipfel Entschlossenheit. Nein, drei Wochen Urlaub genügen ihm nicht, das war nicht, worauf er gehofft hat. Er will Soldat werden. Jedenfalls dem Büro entrinnen, selbst ohne Gehalt, ein halbes, ein ganzes Jahr … auch, wenn jetzt der Direktor darüber lächelt: Ja, lieber Herr Kollege, so lassen Sie uns das Gespräch doch ein andermal fortsetzen. [49]
Zum ersten Mal seh ich dich aufstehn
hörengesagter fernster unglaublicher Kriegs-Gott.
Wie so dicht zwischen die friedliche Frucht
furchtbares Handeln gesät war, plötzlich erwachsenes.
Gestern war es noch klein, bedurfte der Nahrung, mannshoch
steht es schon da: morgen
überwächst es den Mann. Denn der glühende Gott
reißt mit Einem das Wachstum
aus dem wurzelnden Volk, und die Ernte beginnt.
Bewunderte, umstrittene, gescholtene Verse, niedergeschrieben in den ersten Stunden des Weltkriegs, und doch nur Partikel einer unermesslichen, aus den gebildeten Schichten sich erhebenden, in die Büros von Tageszeitungen, Zeitschriften und Verlagen dringenden und schließlich die Gehirne der Leser erstickenden Wolke aus Worten. Tausende von Gedichten täglich . Dazu Briefe, Erlebnisberichte, Durchhalteparolen, Entrüstung über den heimtückischen Feind. Eine Explosionswolke, turmhoch, das ganze Land erfassend, buchstäblich atemberaubend.
Der Autor jener FÜNF GESÄNGE brauchte keineswegs zu befürchten, dass seine Verse inmitten der allgemeinen Kakophonie ungehört blieben. Man erwartete, man erhoffte sie. Wer, wenn nicht er, Rainer Maria Rilke, war dazu berufen, dem ungeheueren Augenblick die adäquate, erhabene, letztgültige Form zu verleihen? Der erste KRIEGS-ALMANACH des Insel-Verlags war ein durchaus würdiger Ort, um dieses Ereignis zu begehen.
Doch noch ehe der Almanach erschien, wand sich der Autor bereits in Reue. »›Kriegslieder‹ sind bei mir keine zu holen, beim besten Willen«, beschied er ungewohnt deutlich dem Berliner Verleger Axel Juncker. Zwar musste er einräumen, »ein paar Gesänge« schon aus der Hand gegeben zu haben, »aber die sind nicht als Kriegs-Lieder zu betrachten auch möchte ich sie nicht an anderer Stelle wieder verwendet wissen«. Das war im Oktober 1914, keine drei Monate nach Erwachen des glühenden Kriegs-Gottes. [50]
Rilkes kurzzeitige Exaltation und die schon nach wenigen Tagen einsetzende, stufenweise sich vollziehende Ernüchterung lässt sich aus seinen Korrespondenzen präzise nachzeichnen. Der Eindruck ist erschütternd: als vollziehe sich in Rilkes Erleben und in seinen Reaktionen etwas Paradigmatisches, das die Stimmung und den Puls jener Tage über historische Schranken hinweg beinahe körperlich erfahrbar macht. Vor allem die mit hohlen Mythen spielende, uns geradezu wahnhaft erscheinende Rhetorik der Erhabenheit wird unmittelbar verständlich als Ausdruck der Sprachlosigkeit: Das schockhaft Neue verlangt nach neuen literarischen Formen und Bildern, die Rilke nicht zur Verfügung stehen.
Allerdings begriff er sehr bald, dass das eigentliche, moderne Verhängnis dieses Krieges nicht im Gefechtslärm zu suchen war, nicht – wie Freud beklagte – in der allgemeinen Legitimation {73} natürlicher Mordlust, sondern in einer nie da gewesenen, verblendeten, selbstmörderischen und dennoch kalt berechnenden und berechneten Kollektivität: »das Verstörende ist ja nicht die Thatsache dieses Krieges, sondern daß er in einer vergeschäfteten, einer nichts als menschlichen Welt ausgenutzt und ausgebeutet wird.« Und Rilke wird noch konkreter, er benennt Schuldige: »diesen ganzen Krieg über haben voreilige Zeitungslügen lebende junge Thatsachen zur Welt gebracht, man hat den Eindruck, seit es eine bis zum Äußersten getriebene Presse giebt, kann ein Krieg, der einmal da ist, überhaupt nicht mehr aufhören, denn die infamen Blätter kommen seinem eigenen Verlauf ohne Ende zuvor.« Der Krieg ist, mit anderen Worten, alles andere als jenes vorzeitliche, rauschhafte Geschehen, das Rilke mit
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