Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Unfallversicherung war ja vor allem für die Opfer der modernen Technik zuständig, genauer: für Menschen, die in Ausübung ihrer Pflichten durch Technik zu Schaden gekommen waren, und das galt ebenso für jene, die schwere Unfälle an der Front erlitten hatten, für ›Krüppel‹ in Uniform also. Denn darum ging es: um Schwerverletzte, Amputierte, Erblindete, um Soldaten und Offiziere, die durch keinerlei medizinische Maßnahme wieder kriegstauglich gemacht werden konnten und die daher unwiderruflich »heimkehrten«.
Die Aufgabe war gewaltig und erforderte immensen verwaltungstechnischen Aufwand. Zunächst wurden ›Staatliche Landeszentralen‹ gegründet, welche die Fürsorge koordinierten und die sich – wiederum untergliedert in diverse Ausschüsse – mit der Registrierung, der Heilbehandlung, der Umschulung und der Arbeitsvermittlung der Invaliden befassten: dies alles – in Österreich-Ungarn unvermeidlich – unter Vorgabe schwerfälliger bürokratischer Prozeduren und starrer sozialer Distinktionen. Da ging es nicht ab ohne ›Personenhauptanhörung‹, ›Invalidenpersonalbogen‹ und ›Kriegsbeschädigtenkataster‹, und auf Seiten der Helfer wurde strikt unterschieden zwischen denjenigen, welche die Landeszentralen repräsentierten, dort jedoch allenfalls beratend tätig waren (Politiker, Universitätsmediziner, Vertreter des Roten Kreuzes und der Militärkommandanten), und denjenigen, welche die tatsächlich anfallende laufende Arbeit erledigten.
Dass diese ›Agenda‹ in Prag fast ausschließlich in den Räumlichkeiten der Arbeiter-Unfallversicherung und mit deren hauseigenem Personal erledigt wurde, war dem Innenminister gewiss höchstwillkommen: ein keineswegs selbstverständliches Engagement, das vor allem Direktor Marschner zu verdanken war. Marschner vertrat die Auffassung, dass, ebenso wie bei Arbeitsunfällen, die Fürsorge des Staates »nicht eine Gnade aus den Händen der Armenversorgung« sein dürfe; vielmehr: »ein Rechtsanspruch soll all jenen Bewohnern gegeben werden, denen der moderne Erwerbskrieg Schädigungen zugefügt« hat. [60] Dies nun hörte man im Innenministerium gewiss weniger gern, und auch in Prag dürften die Begriffe ›Rechtsanspruch‹ und ›Erwerbskrieg‹ manchen sensiblen politischen Nerv getroffen haben. Tatsächlich blieben die Ansprüche von Kriegsinvaliden noch auf Jahre hinaus ohne klare gesetzliche Grundlage, selbst schriftlich zugesagte Hilfen aus Wien brauchten in der Regel Monate, ehe sie Prag erreichten (das hatten auch schon die galizischen Flüchtlinge erfahren), und so hatte Marschner gar keine andere Wahl, als mittels eines informellen Unterstützungsfonds zumindest im böhmischen Bereich dafür zu sorgen, dass in den dringendsten Fällen sofort geholfen wurde.
Marschners soziale Haltung ist umso bemerkenswerter, als sie ja nicht nur für seine Behörde, sondern auch für ihn persönlich eine bis an die Grenzen des Erträglichen reichende Arbeitsbelastung mit sich {80} brachte. Marschner als Einziger war Mitglied sämtlicher Ausschüsse der Landeszentrale, an deren Sitzungen er auch ausnahmslos teilnahm; er hatte zu entscheiden, welchen Mitarbeitern die zusätzlichen Aufgaben zugemutet werden konnten; er hatte vielfältige Kontakte zu pflegen, um an Spenden zu gelangen; er unterstützte die neuen Maßnahmen propagandistisch durch Vorträge und sogar durch eine eigene Zeitschrift (Kriegsbeschädigtenfürsorge) ; und nicht zuletzt war er Vorsitzender jener ›Zuweisungskommission‹, die Woche für Woche über jeweils mehr als hundert Schicksale entschied. Und über dies alles war natürlich in Wien regelmäßig Bericht zu erstatten.
Verständlich, dass Marschner unter solchen Umständen nicht das geringste Interesse daran hatte, gut eingearbeitete Fachkräfte in den Kriegsdienst oder gar in einen »langen, unbezahlten Urlaub« zu entlassen, und ebenso verständlich, dass er im Gespräch mit Kafka dessen Sorgen zu relativieren suchte, indem er ihm die eigene berufliche Bürde vor Augen hielt – so unbedarft das in rhetorischer Hinsicht auch wirken mochte. »Wäre er nur nicht so freundlich und teilnehmend!«, notierte Kafka zwischen den Zeilen seines Gesprächs-protokolls. [61] Darin steckte mehr Wahrheit, als er ahnte. Denn dass Marschner überhaupt die Zeit und die Geduld fand, sich mit Kafkas nervösen Leiden und mit seinen Fluchtphantasien zu befassen, war erstaunlich genug, während sich Kafka über das Arbeitspensum seines obersten
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