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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Chefs wohl kaum im Klaren war.
    Freilich überstieg es Marschners Möglichkeiten, seinen verzweifelten Angestellten vor weiteren Belastungen zu bewahren. Mit der Fürsorge für die Kriegsversehrten war auch der Krieg selbst in die bislang beschaulichen Flure der Anstalt eingedrungen, und zwar auf augenfällige und durchaus schockierende Weise. Betrat Kafka des Morgens sein Dienstgebäude, so stieß er bereits im Treppenhaus auf Dutzende von Invaliden, darunter zweifellos auch manche Entsetzen erregende Erscheinung: Es hatte sich als unmöglich erwiesen, den Ansturm (bis zu achtzig ›Krüppel‹ täglich) mittels eilig freigeräumter Wartezimmer zu kanalisieren, sodass der Anblick der überwiegend amputierten Opfer auch in jenem halböffentlichen, dem allgemeinen ›Parteienverkehr‹ zugänglichen Raum unvermeidlich war. Gewiss, Derartiges gab es auch andernorts zu sehen, und eine der wesentlichen Aufgaben der Fürsorge bestand ja gerade darin, die Invaliden ›von der Straße zu holen‹, wo sie auf die Stimmung der Bevölkerung drückten – {81} vor allem, wenn sie ihre Kriegsauszeichnungen präsentierten und die leere Hand ausstreckten. Kafka hat noch gegen Ende des Krieges bekannt, dass er ebenso gerne wegschaute wie alle anderen. [62]   Hier jedoch, vor der Tür des eigenen Büros und in Gestalt einer ewig sich erneuernden, grotesken Versammlung – das war eine andere, konzentrierte, förmlich auf den Leib rückende Erfahrung des Elends, der gegenüber die aktenmäßige Bearbeitung gewöhnlicher Arbeitsunfälle jetzt beinahe als Beamtenidyll erschien.
    Inwieweit Kafka von diesem Umbruch auch dienstlich betroffen, wie genau er über die Hintergründe im Bilde war, lässt sich nur höchst unzulänglich rekonstruieren. Er selbst streift das Thema in allenfalls beiläufigen Bemerkungen, und besäßen wir nicht einen in tschechischer Sprache verfassten Tätigkeitsbericht der Versicherung [63]   , so hätten wir weder eine Vorstellung von den höchst deprimierenden und teils auch chaotischen Verhältnissen, die während des Krieges im überfüllten Amtsgebäude ›Na Pořiči 7‹ herrschten, noch wüssten wir, warum die Anstalt die so beliebte ›einfache Frequenz‹ – Kafkas einzigen Trost über Jahre – abschaffte und ihre Beamten ab Januar 1916 täglich ein zweites Mal zum Dienst antreten ließ, nachmittags von 16 bis 18 Uhr. Anders war die zusätzliche Arbeit nicht zu bewältigen, und wie der Tätigkeitsbericht ausweist, dürfte es auch unter den niedrigen Diensträngen, ja selbst unter den Schreibkräften kaum jemanden gegeben haben, der sich hätte entziehen können.
    Auch die Betriebsabteilung bekam ihren Teil: Dort übernahmen Pfohl und Kafka die laufenden Aktivitäten des Ausschusses für Heilbehandlung, und das bedeutete zunächst, möglichst rasch Inventur zu machen: Wer hatte Erfahrung mit Prothesen, welche böhmischen Heilstätten waren geeignet, Kriegsverletzte aufzunehmen, welche Kliniken und Sanatorien konnte man entsprechend erweitern, umwidmen oder gar, die entsprechenden Mittel vorausgesetzt, in eigene Regie übernehmen? Das erforderte umfassende Korrespondenzen (die überwiegend Kafka zu erledigen hatte), Lektüre von Fachpublikationen, Beratungen mit Medizinern und nicht zuletzt Reisen und Besichtigungen – auch davon freilich findet sich in Kafkas Briefen und Tagebüchern fast keine Spur, obgleich alles darauf hindeutet, dass die neuen Aufgaben ihn bis Kriegsende täglich mehrere Stunden in Anspruch nahmen und dass er auch im privaten Umfeld bald als Auskunftsstelle geschätzt wurde, wenn es um Invalidenrenten ging.
    Viel mehr wüssten wir nicht – wenn nicht Kafkas Vorgesetzte auf den Gedanken verfallen wären, ihn zum special agent zu ernennen, ihn mit einer heiklen Mission zu betrauen, die ihn nötigte, die Deckung ein wenig zu lockern.
»Bald nach Kriegsausbruch zeigte sich in den Straßen unserer Städte eine sonderbare, Schrecken und Mitleid erregende Erscheinung. Es war ein von der Front gekommener Soldat. Er konnte sich nur an Krücken vorwärts bewegen oder wurde geführt. Sein Körper wurde nämlich ununterbrochen geschüttelt wie von maßlosen Frostanfällen oder als stehe er mitten in der friedlichen Straße unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Erlebnisse in der Front. Man sah dann auch andere, welche sich nur springend vorwärts bewegen konnten; arme, bleiche, ausgemergelte Menschen führten Sprünge aus, als halte sie eine unbarmherzige Hand im Genick, die sie in

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