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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Soldatenstand in das Arsenal seiner Fluchtphantasien aufgenommen hatte: Bereits im Frühjahr 1915 hatte dieses ›Krieg oder Urlaub!‹ auch Felice Bauer schon zu hören bekommen, eine weitere Variante dann wenige Monate später: »Augenblicklich scheint es nur zwei Heilmittel für ihn zu geben, Heilmittel, nicht in dem Sinn, dass sie das Vergangene ungeschehn machen, sondern ihn vor Weiterem bewahren könnten. Das eine wäre F., das andere der Militärdienst.« [73]   Sich in die Reihe der Mittel gestellt zu sehen, dürfte Felice Bauer, anders als den Direktor, wohl kaum erheitert haben, und das distanzierende ›Er‹ machte die Sache nur noch deutlicher, also schlimmer.
    »Vor Weiterem bewahren«: Das lässt an jene nervösen Drohungen denken, die Kafka auch gegenüber Marschner ausstieß. Doch man muss hier nicht an Selbstmord denken, ja, es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass Kafka noch die Energie aufbrachte, sich einen konkreten Endzustand auszumalen. Er kämpfte gegen den Niedergang, und er sah sich auf einer schiefen Ebene, deren Neigung allmählich zunahm und auf der alles in ein und dieselbe Richtung zerrte: die 50-Stunden-Woche im Büro, das Eingesperrt-Sein, das unter Kopfschmerzen und Schlafmangel erstickte Bedürfnis zu schreiben, die immer weiter zunehmende Einsamkeit. Jede Chance, diese Situation grundlegend zu verändern und den psychischen Verfall, den Kafka mit dem qualvoll intensivierten Zeitgefühl des Ertrinkenden durchlebte, {92} noch aufzuhalten – jede Chance war willkommen, Urlaub, Heirat, Kriegsdienst, es war beinahe schon gleich. Und so muss selbst die Verantwortungslosigkeit des einfachen Soldaten, des ›Feldgrauen‹, der sich über die Rechtfertigung seines anbefohlenen Tuns keine Gedanken mehr zu machen braucht, Kafka zuzeiten als süße Versuchung erschienen sein. »Die Kopfschmerzen in Karlsbad waren nicht geringer als die in Prag«, schrieb er nach einer neuerlichen Dienstreise. »Im Feld wäre es besser.« [74]  
    Also doch: der Krieg als Heilmittel? Tatsächlich waren im ersten Kriegsjahr Stimmen laut geworden, welche den physischen Überlebenskampf als geeignete Kur gegen Neurasthenie und Hypochondrie verordneten: wirkliche gegen eingebildete Sorgen, eine einfache Rechnung. Auch »das tägliche Leben in freier Luft«, das die Frontkämpfer genossen, wirke Wunder »bei nicht wenigen, die bis dahin als Stubenhocker galten«, ja sogar bei »ewig kränkelnden blassen Schwindsuchtskandidaten«. [75]   Unwahrscheinlich, dass Kafka von derartigem Nonsense , den mangels eigener Erfahrung sogar Psychiater verbreiteten, sich hat beeindrucken lassen: Auch er wusste, dass die »freie Luft« vielerorts tödlich war (nämlich mit Diphenylarsinchlorid durchmischt) und dass von Schlachtenlärm eine nervenstärkende Wirkung nicht unbedingt zu erhoffen war. Das bezeugten hinlänglich die ›Kriegszitterer‹.
    Keineswegs immun war Kafka jedoch gegen den teils unterschwelligen, teils manifesten moralischen Druck, der jedem zu Hause verbliebenen Mann im ›wehrfähigen‹ Alter begegnete. Dieser Druck konnte durchaus bedrohliche Formen annehmen: So hatte Kafkas ferner Gönner Carl Sternheim sehr genau zu überlegen, ob und bei welchen Gelegenheiten er noch öffentlich sichtbar werden wollte. Jederzeit konnte es einem Kritiker einfallen, die Frage aufzuwerfen, warum dieser junge, vital aussehende Mann sich im Theater anstatt an der Front bewährte, und das konnte Folgen haben. Auch in der denunziatorisch vergifteten Atmosphäre Prags, wo man einander vorrechnete, dass es die Deutschen oder die Tschechen oder die Juden waren, die sich dem Kriegsdienst am geschicktesten zu entziehen verstanden, konnte man unversehens zum ›Fall‹ werden, den die jeweilige Gegenpartei triumphierend beim Namen nannte: Wieder einer, der sich als unentbehrlich hat reklamieren lassen, und in Kafkas Fall: ein Jude natürlich.
    Seit der Kriegserklärung Italiens hatte dieser Druck noch einmal spürbar zugenommen. Denn auch diejenigen, die allmählich Zweifel beschlichen, ob die Strafaktion gegen Serbien wirklich einen Weltkrieg wert gewesen war, konnten nun darauf verweisen, dass die Habsburger Monarchie betrogen und verraten war. Jener entsetzliche Krieg im Hochgebirge, jenes sinnlose Schlachten am Isonzo: Das war ein aufgezwungener, ein Verteidigungskrieg; noch der konsequenteste Pazifist hätte dies einräumen müssen. Damit aber trat das politische und ›völkische‹ Räsonnement in den Hintergrund, und die

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