Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
ausgelegt.
Zu Unrecht. Denn Kafka nahm den Krieg persönlich , und im strengsten Sinne des Wortes. So unerreichbar er blieb für abstrakte Vorhaltungen (›Man muss doch in diesen schweren Zeiten … wenn unser Kaiser ruft … ‹), so empfindlich blieb er gegenüber vorsprachlichen, gestischen, spontanen Äußerungen, denen er von jeher einen höheren Grad von Wahrheit zubilligte und gegen deren moralische Implikationen er daher weitgehend wehrlos war. Argumente prallten an Kafka ab, doch Blicke durchdrangen ihn bis ins Innerste: Die Blicke des Vaters, der von seiner eigenen Militärzeit tagträumte, wenn die beiden Schwäger von ihren Kriegserlebnissen in Galizien erzählten; die Blicke im Büro, wenn Feldpostkarten umhergereicht wurden von Kollegen, die man nur mit gestärkter Hemdbrust kannte (auch Kafka bekam solche Karten, »Und was uns der Morgen bringt? Wer fragt darnach!«, hieß es auf einer von ihnen [77] ; die Blicke der jungen Zionisten, wenn von den Heldentaten und Kriegsauszeichnungen Hugo Bergmanns die Rede war; die Blicke von Frauen mittleren Alters, Mütter eingerückter Söhne, denen man keinesfalls hätte erklären können, mit welcher Berechtigung man noch immer über den Altstädter Ring spazierte; zu schweigen von den Blicken der Opfer auf den Treppenstufen der Arbeiter-Unfallversicherung, denen Kafka berufsbedingt nicht ausweichen konnte.
Nein, er hatte sich nicht verändert. Die Argumente der Ostjuden, selbst ihrer eloquentesten Vorsprecher – hatten sie ihn jemals entscheidend bewegt? Kaum eine Spur davon findet sich im Tagebuch. Stattdessen schildert er ihre selbstbewussten, geschulten Gesten und vergleicht sie mit dem unsicheren Auftreten Brods: Das genügt. Hatte er jemals Felice Bauer um ihre Ansichten befragt? Ihre Augen suchte er, ihre Hand. »Was eine Ehe verlangt«, erklärte er, »ist menschliche Übereinstimmung, also Übereinstimmung noch tief unter allen Meinungen, also eine Übereinstimmung, die nicht zu überprüfen, sondern nur zu fühlen ist ...« [78] ›Und so halte ich es mit allem‹, hätte er hinzufügen können. Auch gegenüber den Juden, auch im Krieg. Da waren die Blicke der Menschen, die ihn umgaben, und da war die unabweisbare Tatsache, dass er sein ziellos gewordenes Leben im {96} Büro versaß: ein Missverhältnis, eine Unwahrheit, eine Nicht-Übereinstimmung, noch tief unter allen Meinungen .
Selbst seinen Angehörigen, selbst Felice Bauer ist wohl kaum je bewusstgeworden, wie kompromisslos Kafka dieser Logik des Intimen tatsächlich folgte. Denn nicht immer machte er sie kenntlich, und so dringlich er in den Blicken und Gesten anderer nach Zeichen suchte, die für ihn bestimmt waren, so gut wusste er sich gegen Vorhaltungen zur Wehr zu setzen, die ausdrücklich auf ihn zielten. Dass es ihm eigentlich zu gut gehe, hatte er vom Vater oft genug zu hören bekommen – jetzt, unter den Bedingungen des Krieges und des Mangels, schwoll dieses alberne Lamento zu einem immerzu fühlbaren sozialen Druck, zu einer generalisierten An klage, die förmlich von allen Lippen ablesbar war und der sich Kafka durchaus nicht ohne Widerstand ergeben wollte:
»Lache nicht F., finde mein Leiden nicht verächtlich, gewiss, so viele leiden jetzt, und was ihr Leiden verursacht ist mehr als ein Flüstern im Nebenzimmer, aber gerade im besten Fall kämpfen sie für ihre Existenz oder richtiger für die Beziehungen, die ihre Existenz zur Gemeinschaft hat, nicht anders ich, nicht anders ein jeder.« [79]
Auch Kafka verlangt sein Recht. Doch er verschweigt seine Eifersucht auf jene, die sichtbar kämpfen. Und diese sind es, denen er sich anschließen will. Hier allein wäre Übereinstimmung, Wahrheit und, wie das Glück es will, zugleich ein Weg hinaus, ins Freie.
»An das K.k. Polizei-Präsidium in Prag .
In Angelegenheit der Anträge betreffend Auszeichnungen wegen Verdiensten auf dem Gebiete der Kriegsbeschädigten-Fürsorge ersuchen wir in die Reihe derselben auch Herrn Dr.Franz Kafka , Vizesekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag aufnehmen zu wollen.
Dr.Franz Kafka besorgt neben der Agenda der Versicherungstechnischen Abteilung die Vorbereitung und die Erledigung der Agenda des Ausschusses für Heilbehandlung seit dem Jahre 1915. Er erledigt die Korrespondenz betreffend die Gründung und den Betrieb der Heilstätten. Insbesondere obliegen ihm die Angelegenheiten, betreffend die von der Staatlichen Landeszentrale geführten
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