Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Krieger-Nervenheilanstalt in Frankenstein.«
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Eine Auszeichnung für Kafka, beantragt von der ›Staatlichen Landeszentrale zur Fürsorge für heimkehrende Krieger‹ am 9.Oktober 1918. Aber seit wann war für die Vergabe von Orden die k.k. Polizei zuständig? Schon immer. Denn zunächst einmal war doch festzustellen, ob es gegen den Aspiranten irgendwo und irgendwann Beschwerden gegeben hatte, und zur Feststellung dessen hatten sämtliche österreichischen Kommissariate die entsprechenden Karteikästen zu durchblättern und das Ergebnis telegrafisch mitzuteilen. Nachdem dieser landesweite Datenabgleich binnen weniger Stunden ein negatives, das heißt positives Ergebnis gezeitigt hatte, konnte das Prager Polizeipräsidium bereits am 20.Oktober eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen:
»Gegen JuDr.Franz Kafka, Vicesekretär der Arbeiterunfallversicherungsanstalt liegt weder in staatsbürgerlicher noch in sittlicher Hinsicht etwas Nachteiliges vor.« [80]
Von niemandem also war er »verläumdet« worden. Ein Freispruch erster Klasse und zugleich der Gutschein für eine Belobigung von höchster Stelle. Indessen, auch dieser Preis blieb Kafka versagt. Denn bereits drei Wochen später hatte jene höchste Stelle sich still verabschiedet und die noch ausstehenden Orden natürlich vergessen.
{147} Kafka trifft auf seine Leser
Nur am eigenen Tisch kann man satt werden.
Ostjüdisches Sprichwort
»Sehr geehrter Herr,
Sie haben mich unglücklich gemacht.
Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären.
Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung.
Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung.
Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos.
Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht.
Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst Dr Siegfried Wolff«
So sahen sie aus, die kleinen, komischen Turbulenzen, wenn Kafkas frühe Texte auf Kafkas frühe Leser stießen – harmlose Vorboten jener ungeheuren diskursiven Brandung, die eine Generation später über seinem Nachlass zusammenschlagen sollte. Und es gab ihn wirklich, diesen tapferen Siegfried aus Berlin-Charlottenburg, sein Doktortitel war echt (rer. pol.), der Schützengraben ebenso (1915 verwundet), und von Beruf war er Bankdirektor. Unwahrscheinlich, dass Kafka sich den Spaß einer lakonischen Belehrung hat entgehen lassen. [151]
Seine Tagebücher sprechen kaum je davon, doch spätestens seit der Veröffentlichung von BETRACHTUNG, mit der er vom Verfasser zum {148} Schriftsteller avancierte, kannte auch Kafka die sonderbare Erfahrung, die mit dem Auftauchen von Lesern einhergeht, mit jenem Eigenleben des literarischen Textes, das sich der Kontrolle und dem Perfektionswillen des Autors für alle Zeiten entzieht. ›Rezeptionsgeschichte‹ lautet der terminus technicus ; aus Sicht der Leser das natürliche Medium von Literatur, denn ein anderes kennen sie gewöhnlich nicht. Für den Autor hingegen, für den der Text das Resultat einer Anstrengung ist, für den sich Anlässe, Ideen und Assoziationen, verworfene Varianten und ungebetene Einfälle, Blockaden und narzisstische Delirien zu einer ganz anderen Geschichte ordnen – für den Autor, selbst für den erfolgreichsten, ist der Beginn der Rezeption zugleich ein Ende: Es wird ihm etwas aus der Hand genommen, und Menschen, die er nicht kennt, machen sich darüber her. Auch Kafka ist diese Erfahrung nicht erspart geblieben: erstaunlich, absurd bisweilen, was man in seine schmalen Texte alles hineinlesen konnte. Doch anders als Brod widerstand er der Versuchung, mittels nachträglicher Belehrungen einzugreifen oder gar die Autorität des Schöpfers auszuspielen: Die eigene Deutung behielt er für sich, den Lesern ließ er die ihre.
Es dürfte nicht zuletzt der Tradition des Vorlesens zu verdanken sein, die in seinem engsten Freundeskreis gepflegt wurde, dass Kafka sich an den Anblick autonomer Leser mit autonomen Urteilen frühzeitig gewöhnte und einer allzu
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