Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
seinem Unglück, in jener inneren Welt zumeist ebenso fremd aus dem gleichen Grund . Er ist anwesend, doch nicht bei sich – weder hier noch dort.
    Das kann in den Wahn führen, dessen Nähe Kafka mit vollem Recht zeitlebens gefürchtet hat. Doch es hat wenig zu tun mit den Leistungen, welche die Gesellschaft dem Einzelnen abfordert. Der Weltfremde vermag sich als Handwerker, Anwalt, Lehrer oder Politiker ebenso zu bewähren wie als Vizesekretär einer Unfallversicherung, und dass er in all diesen Funktionen gleichsam auf nur einem Bein verharrt und das Balancieren des Ichs daher als zusätzliche Aufgabe dauernd zu bewältigen hat – dies kann, unter Umständen, lebenslanges Geheimnis bleiben. Und ist es wohl, in Abertausenden von Gehirnen, auch geblieben, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.
    Vieles spricht dafür, dass Kafka über das tatsächliche Grauen des Krieges Genaueres wusste als die überwältigende Mehrzahl zeitgenössischer Autoren; gewiss ist, dass er keines ›Schauschützengrabens‹ {90} bedurfte, um eine wirklichkeitsnahe Vorstellung zu gewinnen, erst recht nicht, seit die Regulierung von Kriegsschäden zu seinem Beruf gehörte. Er hat die Verstümmelten und die ›Zitterer‹ nicht nur gesehen, er hat mit ihnen gesprochen und verhandelt, ist administrativ eingedrungen in ihr Schicksal. Dass Kafka die beiden Prager ›Versehrtenschulen‹ hat aufsuchen müssen, wo der Umgang mit Prothesen erlernt wurde, ist so gut wie sicher – sie waren nur wenige Straßenbahnstationen entfernt, auch hier brauchte der ›Ausschuss für Heilbehandlung‹ keine umständlichen Korrespondenzen zu führen –, und damit drang er vor in jene Schweigezone des Krieges, welche der Bevölkerung, darunter fast allen seinen Freunden und Verwandten, weitgehend Gerücht blieb.
    Doch je mehr Licht auf Kafkas umfassende Zeugenschaft fällt, je mehr das naive Bild vom weltfremden Dichter, den der Krieg gar nicht erreicht, im Licht der Indizien vergeht, desto finsterer wird es in jenem psychischen Dickicht, wo sich Erkenntnisse und Erfahrungen verdichten zu Entschlüssen. Kafka wusste, was es hieß, Soldat zu werden, und kaum ein Zweifel bleibt daran, dass er es dennoch wollte. »Halbe Lüge wäre gewesen«, notierte er nach der letzten, ergebnislosen Unterredung mit Marschner, »wenn ich um sofortigen langen Urlaub gebeten hätte und für den Fall der Verweigerung um Entlassung. Wahrheit wäre gewesen, wenn ich gekündigt hätte. Beides wagte ich nicht daher ganze Lüge.« Es war jener alte Traum vom Weggehen, den er seit der ersten Begegnung mit Felice Bauer, seit der ersten durchschriebenen Nacht, in der DAS URTEIL entstand, beinahe täglich träumte. Doch während er träumte, wurden draußen die Kulissen gewechselt. Gewiss, damals hätte er weggehen sollen, er hatte es längst begriffen; denn 1912 hätte ihn die Kündigung nach Berlin geführt, in größtmögliche innere Unabhängigkeit, in eine erotische Beziehung, nahe ans Tor von Ehe und Familie und nahe auch an Möglichkeiten, dem Krieg unter geringeren Kosten zu entgehen. [71]   Kündigung im Jahr 1916 hingegen führte in den Graben, unweigerlich, ins Lazarett vielleicht, in Gefangenschaft, Invalidität, ins Nichts.
    Er wusste es, und dennoch schwieg er darüber, selbst in den privaten Heften, die vor dem Auge des Zensors sicher waren. Fast scheint es, als habe Kafka ausgerechnet in diesem entscheidenden Augenblick alle Lust an der strategischen Vorausschau verloren, als {91} sei jene ›beamtenhafte‹ Gier erloschen, das Leben kalkulatorisch vorwegzunehmen und so der Angst vor dem Unausdenkbaren standzuhalten. Er wusste es. Er wusste sehr gut, was einem Mann an der Front bevorstand, dem im Frieden schon der Anblick eines blutenden Pferdeknies das Gesicht verzerrte. [72]   Doch da gab es eine zweite Waagschale, auf der die Bleigewichte eines jahrelangen erzwungenen Stillstands versammelt waren. Was hielt ihn noch? Er wollte nicht, wie 1912, irgendwo ankommen, er wollte weg von hier , und beinahe um jeden Preis.
    Kafka entging es durchaus nicht, dass sein Verhalten komisch, ja geradezu wunderlich wirken musste. Ein mittlerer Beamter, der seinen Vorgesetzten dazu auffordert, ihn entweder in den Krieg oder in den Urlaub zu schicken, ganz nach Belieben – kein Wunder, dass selbst Marschner, der wohl wusste, was in diesem Augenblick auf dem Spiel stand, ein Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte. Er konnte nicht wissen, wie entschlossen Kafka seit langem den

Weitere Kostenlose Bücher