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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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auf eine Adresse verständigt, die jedem Neurastheniker in Böhmen ein Begriff war. Und keineswegs zufällig war jener Hauptmann, der im ›Vorbereitenden Ausschuss‹ des Vereins mitwirkte und der dem Heer als hochrangiger Experte für Kriegsbeschädigtenfürsorge diente, im Zivilberuf niemand anderer als der Herr Direktor Eger vom Sanatorium Rumburg-Frankenstein, wo Kafka im Jahr zuvor seinen dürftigen Urlaub verbracht hatte. Ob Eger in den Verhandlungen seinen ehemaligen Patienten wiedererkannte, wissen wir nicht, doch Marschner wird sich den ironischen Fingerzeig wohl kaum versagt haben. [69]  
    Wieder einmal, wie so oft, erhob das Amt Einspruch gegen das Leben. Längst hatte doch Kafka genug von der umzäunten Scheinwelt der Sanatorien; nach Konzentration verlangte es ihn, nicht nach organisierter Entspannung, und wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass wirkliche Gesundung nicht eine Frage des Service war, dann hatte Rumburg diesen Beweis erbracht. Das war abgetan, war Vergangenheit. Und nun kehrte dieser Sanatoriumswahn durch eine ganz andere Tür, in Gestalt einer dicken Akte zu ihm zurück, als weitere zeitraubende Korrespondenz, die sich dem altbewährten Kreislauf eingliederte: Kafka diktierte, Pfohl unterschrieb, und Marschner verhandelte dort, wo sechsstellige Summen nach einer Beglaubigung durch Rang und Titel verlangten.
    Und wieder agierte dieses eingespielte Trio überaus erfolgreich. Bereits am 15.Mai 1917, nur sieben Monate nach Gründung des Vereins, fand in Rumburg eine kleine, halböffentliche Feier statt: Übernahme des Sanatoriums, Verabschiedung des bisherigen Direktors Eger, belehrende Ansprachen an das (gewiss nervöse) Personal, das nun eine ganz andere Klientel zu gewärtigen hatte und überdies unter militärische Aufsicht geriet. Im Mittelpunkt stand Dr.Marschner, dessen humanitärer Einsatz wieder einmal Früchte trug, mitgereist war Oberinspektor Pfohl. Der dritte Mann war in Prag geblieben, um Wache zu halten in der Betriebsabteilung, und gewiss hatte niemand ihn dazu überreden müssen.
    Das entscheidende Versprechen, mit dem man schließlich den ungeheueren Betrag von 600 000 Kronen gesammelt hatte, wurde eingehalten. [70]   Wenige Monate nach Ende des Weltkriegs, im Februar 1919, wurde Rumburg zur deutschböhmischen Volksnervenheilanstalt, mit stark ermäßigten Behandlungskosten für sozial Bedürftige. Damit war man am Ziel, und die Geschichte hätte zu Ende sein können. Doch zwanzig Jahre später kam es zu einer neuerlichen Umbenennung, welche die Initiatoren – Marschner, Pfohl, Kafka – nicht hatten voraussehen können: Es entstand das ›sudetendeutsche Gau-Sanatorium Rumburg-Frankenstein‹. Das hätten sie nicht gebilligt. Doch keiner von ihnen hat es erleben müssen.

    »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule«. Das denkbar Belangloseste neben der Weltkatastrophe, das Innerste neben dem Äußersten, dazwischen nichts als ein Gedankenstrich {89} – ist es nicht die genuine Weltfremdheit des Dichters, die hier in unvergleichlicher Naivität und Selbstvergessenheit posiert?
    Denkbar ist, dass ein Schriftsteller den Puls seiner Zeit erfühlt, ihn hörbar macht durch Sprache und Bild, und dennoch, wo es auf die handgreifliche Auseinandersetzung mit der Welt ankommt, unbeholfen und unwissend bleibt. Eine denkbare, wenngleich seltene Konstellation. Weitaus häufiger wird als ›weltfremd‹ missverstanden, wer tatsächlich in zwei Welten heimisch ist: im äußeren, sozialen Kosmos, den er gemeinsam mit anderen gestaltet und erleidet, und in einem innerpsychischen Raum, der von Gefühlen, Träumen, Phantasien, Assoziationen und Ideen beherrscht wird und in dem er allein ist. Wem dieser ›Weltinnenraum‹ einen ebenso konstanten Strom von Impressionen bietet wie das äußere Erleben, der kann nicht fortwährend ›bei der Sache‹ sein. Aber wo ist er dann? In einem anderen Film.
    Doch kaum jemals ist der Weltfremde privilegiert genug, um die subtilen Schleusen zwischen Innen und Außen nach Belieben zu öffnen und zu schließen. Der Sog nach innen ist immerzu fühlbar; das Realitätsprinzip aber fordert, dass er wach bleibe, die Menschen erwarten, dass er sich auf das Mitteilbare beschränke. Befremden erregt, wer auf der Straße, im Laden oder gar am Arbeitsplatz plötzlich von Tagträumen erzählt, und seien sie noch so intensiv und bedeutsam. Er bleibt fremd, weil er noch eine zweite Welt kennt und anerkennt , und er bleibt, zu

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