Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Moral betrat die Bühne.
»Alle Überlegungen müssen jetzt schweigen. Jeder Mann, der kein ›Intellektueller‹ ist, muß sich stellen. Erwägungen von Unabkömmlichkeit und Unersetzlichkeit sind jetzt vorbei. Unabkömmlich und unersetzlich ist jeder und keiner. Mag einer für Kunst und Wissenschaft die höchsten Gaben besitzen, nichts Höheres kann er in seinem Leben leisten, als einzustehen für das in Staub getretene Sittengesetz.«
Ob Kafka diesen Aufruf, das Denken einzustellen, vorbehaltlos unterzeichnet hätte, ist zweifelhaft. Die Fessel der Unersetzlichkeit jedoch, mit der seine Vorgesetzten ihn vom Krieg fernhielten, war ihm längst eine Quelle der Scham, und jene Sätze aus der Berliner Schaubühne , abgedruckt nur wenige Tage nach Kafkas militärischer Freistellung, trafen (sofern sie ihm vor Augen kamen, was sehr wahrscheinlich ist) auf ein Bewusstsein, das moralisch wund war. [76] Doch welcher Logik entsprang diese Scham? Wenn Kafka tatsächlich um so vieles mehr über die physische Wirklichkeit des Krieges wusste als alle Verfasser staatstreuer Appelle: warum dieses Schwanken, dieser Gewissensdruck, woher die Entschlossenheit, dem allgemeinen Zug der Lemminge trotz allem zu folgen? Hatte er keine ›Meinung‹ zum Krieg?
Es zählt zu den lebensbestimmenden Eigenheiten Kafkas, dass seine Entscheidungen, obgleich ausgiebig durchdacht, kaum jemals von allgemeinen Erwägungen, Überzeugungen oder Begriffen bestimmt wurden; niemals entschied er deduktiv, aus bloßem Willen zur Konsequenz. Das erscheint nur auf den ersten Blick befremdlich; tatsächlich folgte er damit einem ›weichen‹ Verhaltensmuster, das innerhalb intimer persönlicher Beziehungen die Regel ist und dort auch moralisch gefordert wird. So mag etwa das Bild, das jemand von seinen {94} Eltern gewonnen hat, ganz illusionslos und realistisch sein, er mag die sozialen und ideologischen Abhängigkeiten, in die sie verstrickt sind, noch so genau durchschauen – er wird in allen Entscheidungen, welche die Beziehungen zu den Eltern unmittelbar betreffen, doch nur in den seltensten Fällen allein von seinem Scharfblick sich bestimmen lassen. Diese Unlogik wundert niemanden, sie gilt – ganz im Gegenteil – als menschlich, und auch Kafka selbst, der seinen Vater durchschaute, hat dieses Wissen kaum je als Waffe benutzt, noch hat es seiner eigenen schwachen Position gegenüber dem Vater jemals entscheidend aufgeholfen. Nur selten nützt es, recht zu haben, wenn man miteinander auskommen muss.
Höchst ungewöhnlich allerdings, und auch den engsten Freunden oft befremdlich, wie diese Logik des Intimen bei Kafka über die Ufer tritt: Sie erstreckt sich auf den Beruf, auf die Politik, im Grunde über die ganze Welt und damit zwangsläufig auch über Bereiche, in denen sie deplaziert und ›weltfremd‹ wirkt. Gewiss hatte er eine Meinung zum Krieg, wie jedermann: Er war gemäßigter Patriot, fürchtete eine militärische Niederlage Österreichs, und spätestens im dritten Jahr empfand er das sinnentleerte Töten als ein Entgleisen der Weltgeschichte, als soziale Perversion. In dieser Hinsicht war Kafka intellektuell gänzlich unauffällig: Weder eignete ihm die frühe politische Hellsicht eines Karl Kraus, noch hatte er das Elitebewusstsein Thomas Manns oder Werner Sombarts, die das fortdauernde Gemetzel durch historische Aufrechnung und ideologische Konstrukte zu rechtfertigen suchten.
Doch jenseits des bloßen Meinens war Kafka anders , unterschied sich von der großen Mehrzahl seiner männlichen Standesgenossen – auch von Max Brod, Felix Weltsch und anderen Prager Freunden – in einer eigentümlich ›unaufgeklärten‹ sozialen Praxis. Weder allgemeine Erkenntnisse noch irgendwelche Ansichten zum Weltgeschehen gewannen erkennbaren Einfluss auf sein Handeln. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, ›zu den Fahnen zu eilen‹, um die Habsburgermonarchie zu verteidigen oder gar, wie Sombart postulierte, die Gemeinschaft der ›Helden‹ gegen eine Bande von ›Händlern‹. Ebenso wenig vermochten seine Einblicke in die unmittelbarsten und grausamsten Folgen des Krieges, das Gegenteil zu bewirken, also vom Krieg ihn fernzuhalten. Die gesamte politische Publizistik, die unter dem Druck der Ereignisse zu einem vielstimmigen Lärm angeschwollen {95} war, scheint Kafka ebenso wenig interessiert und beeinflusst zu haben wie das politische Palaver im Büro oder zu Hause, und gewiss mehr als einmal wurde ihm dies als Indifferenz und Kälte
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