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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Nerven der Kämpfenden {86} verursacht. Und dies in einer Weise, von der sich selbst der Unterrichtete kaum eine zureichende Vorstellung machen kann. Schon im Juni 1916 konnte man in Böhmen auf Grund vorsichtiger statistischer Daten über 4000 nervenkranke Kriegsbeschädigte allein aus Deutschböhmen zählen. Und was steht uns noch bevor? Wieviel Nervenkranke liegen noch in den außerböhmischen Spitälern? Wieviel Nervenkranke werden aus der Kriegsgefangenschaft zurückkommen? Unübersehbares Elend wartet hier auf Hilfe ...« [66]  
    Nun, das war nicht sonderlich originell: Den nächsten Krieg – so hatte Wilhelm II. bereits zwei Jahre vor der Katastrophe verkündet – werde dasjenige Volk gewinnen, dessen Nerven im besten Zustand seien. Das schien sich jetzt zu bewahrheiten in einem ungeheuerlichen Ausmaß, niemals zuvor war ein Krieg der zivilen Bevölkerung derart ›auf die Nerven gegangen‹ wie dieser, und je länger er andauerte, umso begehrter die ›nervenstärkenden‹ Elixiere, deren omnipräsente Reklame tatsächlich den Eindruck erweckte, die entscheidende Schlacht finde in der Apotheke statt. Solchen Optimismus hatte Kafkas Werbung nicht zu bieten, die indessen rhetorisch nicht weniger raffiniert war: Er nutzte den Gemeinplatz, um das bedrohlich Neue, den ›Kriegszitterer‹, als eine gewissermaßen logische Folge dessen auszuweisen, was alle kannten oder zu kennen glaubten: die Abnutzung und Erschöpfung der Nervenkraft.
    Es fällt schwer und bereitet Unbehagen, den Autor Kafka in solchen Parolen wiederzuerkennen. Gewiss, in einem Manifest, das eine Versammlung kaisertreuer Honoratioren zufriedenstellen sollte, war es nicht möglich, der Phrase auszuweichen, und es ist unwahrscheinlich, dass die etwa 130 Bürgermeister, Ärzte, Rechtsanwälte, Gutsbesitzer, Bankdirektoren und Oberlandesgerichtsräte, die (neben Kafka selbst) den Text schließlich unterzeichneten, den völligen Verzicht auf patriotisches Beiwerk klaglos hingenommen hätten. Doch Kafka war durchaus dazu bereit, noch ein, zwei Schritte weiterzugehen und in Aufrufen, die für die Presse bestimmt waren, an »unsere siegreichen Armeen«, an die »zur Vaterlandsliebe erziehende Zeit« und an die »vielen schönen Beweise patriotischer Empfindung« zu erinnern, ja, er schreckte nicht einmal vor der Behauptung zurück, der Staat habe seine Pflicht gegenüber den Kriegsinvaliden längst erfüllt – die wohl ungenierteste Lüge, die er in seinem Leben je zu Papier brachte. Doch im Zentrum all seiner amtlichen Appelle steht das handgreifliche und inkompatible Leid des Einzelnen, dessen Würde – hier traf sich Kafka {87} mit dem Sozialpolitiker Marschner – auch im Zustand äußerster Hilflosigkeit gewahrt bleiben muss und der einen Anspruch auf Hilfe hat: »Nein, dies soll keine Bitte an Mildtätige sein, dies ist ein Aufruf zur Pflichterfüllung.« [67]   Kafka hat sich dieses moralisch fordernden Tons nicht geschämt, niemand offenbar hat ihn davon überzeugen müssen, dass der Zweck hier tatsächlich einmal die Mittel heiligte, und sein Appell an die deutschen ›Volksgenossen‹ war sogar eine jener sehr seltenen amtlichen Stilproben, die er unaufgefordert Felice Bauer überreichte. [68]  
    Dass nicht ausschließlich mit den Belangen des Krieges argumentiert wurde – der ja im nächsten Monat zu Ende sein konnte, wozu also noch spenden? –, war propagandistisch durchaus klug. Denn Nervenleiden gab es auch unter proletarischen und kleinbürgerlichen Zivilisten, die sich eine Kur im Sanatorium nicht leisten konnten, ganz zu schweigen von psychoanalytischer Behandlung; es gab schlechterdings keine Institution, die für solche Patienten zuständig war (was tödliche Folgen haben konnte, wie Kafka einmal hautnah erfahren hatte, in der Gärtnerei Dvorský). Auch das sollte nun anders werden. Denn waren die ›heimkehrenden Krieger‹ erst einmal versorgt und der Friede zurückgekehrt, dann konnte man die neue Heilstätte der Allgemeinheit öffnen, und Deutschböhmen wäre im Besitz einer vorbildlichen ›Volksnervenheilanstalt‹.
    Das waren Perspektiven, die überzeugten, und die Spenden flossen derart reichlich, dass bereits nach wenigen Monaten der Ankauf eines Sanatoriums beschlossene Sache war. Doch welches Sanatoriums? Auch in dieser Frage hätte der dichtende Beamte aus der Anstalt sicherlich Rat gewusst. Man verzichtete darauf. Denn sehr früh schon – wahrscheinlich längst vor der Gründung des Vereins – hatte man sich

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