Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
ähnliche Wirkung von gesprochenen Worten beobachtet. Ich blieb bis zuletzt ...« [158]  
{154}
    Man wüsste gern Genaueres. Wer waren die drei Unglücklichen, wie waren sie in eine Lesung Kafkas geraten? Und was genau hatte sie niedergestreckt: jene unsäglichen Gedichte Brods (unter anderem eine längliche ›Kosmische Kantate‹), die Kafka einleitend und zur Entschuldigung des Freundes las; oder der ›Blutgeruch‹, der vorne vom Podium aufstieg; oder war es bloße Langeweile, die sie in den Schlaf zwang? Und was taten sie, als sie erwachten? Erstatteten sie Anzeige wegen Körperverletzung? Gegen den Inhaber der Galerie? Gegen Kafka?
    Eine hinreißende Slapstick-Phantasie, gewiss: ein Dichter, der ungerührt weiterliest, während seine Zuhörer teils hinausgetragen werden, teils auf eigenen Beinen das Weite suchen. Dennoch zählt es zu den eher ärgerlichen Pointen, dass die einzige ausführliche Schilderung von Kafkas Münchener Lesung, verfasst von dem Schweizer Schriftsteller Max Pulver, tatsächlich die Gestalt einer Münchhausiade hat: ein Bericht, in dem buchstäblich jede Einzelheit erlogen ist und der seinen thrill aus den einfältigsten Kafka-Legenden bezieht. [159]   Welche Chance er da vorübergehen ließ, hatte der Geisterseher, Hobby-Astrologe und spätere Graphologe Pulver auch nach Jahrzehnten noch nicht verstanden: Er war nicht nur Zeuge der einzigen außerhalb von Prag stattfindenden Lesung Kafkas gewesen, sondern hatte offenbar auch das einzige Zusammentreffen Kafkas mit Rilke beobachtet – ein ganz außerordentliches Ereignis auch für Kafka selbst, dessen verborgene und äußerlich literaturferne Existenz zu derartigen Begegnungen ja kaum je Gelegenheit bot. Und so bleibt alles in einem eigentümlichen Zwielicht: jene stadtbekannte Galerie im ersten Stock der Buchhandlung Goltz, behängt mit Werken der Neuen Sezession, darin einige Dutzend Zuhörer, die meisten in Mänteln (auch in München herrschte längst Kohlennot), unter ihnen Rilke nebst einigen weiteren Autoren und Kritikern, nicht zu vergessen Felice Bauer, gewiss auf einem Ehrenplatz in der ersten Reihe. Danach die übliche kleine Runde im Restaurant, leider ohne Rilke, stattdessen mit Vertretern der lokalen literarischen Szene wie Eugen Mondt, Gottfried Kölwel und Max Pulver. »Ich hätte meine kleine schmutzige Geschichte nicht lesen sollen«: So lautet die einzige Äußerung Kafkas, die von diesem Abend glaubhaft überliefert ist. [160]   Er hatte, nach langer Zeit, wieder einmal versucht, sich am eigenen Feuer zu erwärmen. Der Funke aber war ausgeblieben.
    Das war auch den Vertretern der Presse nicht entgangen. Er sei »ein recht ungenügender Übermittler«, konnte Kafka schon am folgenden Tag in den Münchner Neuesten Nachrichten lesen; »ein Lüstling des Entsetzens«, hieß es am Sonntag in der Münchener Zeitung , während Kafka schon wieder im Zug saß; »zu lang, zu wenig fesselnd«, wurde ihm noch am Montag von der München-Augsburger Zeitung nachgerufen … Auf die Zusendung weiterer Rezensionen verzichtete er. Und natürlich gab er allen recht, bekräftigte noch »den tatsächlich grossartigen Misserfolg, den das Ganze hatte«:
»Ich habe mein Schreiben zu einem Vehikel nach München, mit dem ich sonst nicht die geringste geistige Verbindung habe, missbraucht und habe nach 2jährigem Nichtschreiben den phantastischen Übermut gehabt, öffentlich vorzulesen, während ich seit 1½ Jahren in Prag meinen besten Freunden nichts vorgelesen habe. Übrigens habe ich mich in Prag auch noch an Rilkes Worte erinnert. Nach etwas sehr Liebenswürdigem über den Heizer, meinte er weder in Verwandlung noch in Strafkolonie sei diese Konsequenz wie dort erreicht. Die Bemerkung ist nicht ohne weiters verständlich, aber einsichtsvoll.« [161]  
    Rilke hatte offenbar alles gelesen – dies allein genügte nun allerdings, um Kafka trotz aller Widrigkeiten in entschlossener Stimmung nach Prag zurückkehren zu lassen. Was kümmerten ihn die paar Zuhörer, denen die Lesung zu lang geworden war, oder die Journalisten, denen sein zurückhaltendes Auftreten so gar nicht expressionistisch vorkommen wollte. Weitaus tieferen Eindruck machte ihm die Erfahrung, dass in diesem fremden Milieu sich niemand für den Bruder, Freund, Liebhaber, Kollegen, Untermieter, Fabrikbesitzer oder Zionisten Kafka interessierte. Er war als Schriftsteller, ausschließlich als Schriftsteller eingeladen und wahrgenommen worden: Man sprach über seine Arbeiten,

Weitere Kostenlose Bücher