Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
wenigstens äusserlich als zweifelloser Zeitgenosse darstelle. Auch damit stimme ich ganz überein, dass die Geschichte nicht in den ›Jüngsten Tag‹ kommen soll.« [155]
Den offenbar eher höflichen als enthusiastischen Gegenvorschlag Wolffs, die Erzählung mit anderen zu bündeln, lehnte Kafka ab. Und mit einem gewissen Trotz teilte er Wolff mit, in Kürze werde er IN DER STRAFKOLONIE öffentlich vortragen.
Bei all den Selbstbezichtigungen, ohne die es bei Kafka nicht abging: Der Unterton der Verärgerung wird dem feinsinnigen Verleger kaum entgangen sein. Ganz ungewöhnlich war jedoch, dass Kafka sein Werk diesmal nicht allein aus inneren Notwendigkeiten rechtfertigte, sondern als symptomatische Erscheinung der Gegenwart. Offenbar befremdete es ihn, dass der Oberleutnant Wolff, der auf zwei Jahre Kriegseinsatz in Frankreich und auf dem Balkan zurückblickte, die Grausamkeiten und physischen Krassheiten der STRAFKOLONIE noch als »peinlich« erleben konnte. Gewiss, das eine war ungeheure Wirklichkeit, das andere nur Literatur. Doch welcher Schriftsteller, der das eigene Tun noch irgend ernst nimmt, kann sich mit dieser Rangfolge abfinden? Musste man denn ausgerechnet Kurt Wolff begreiflich machen, dass Literatur, wahrhaftige Literatur , sich allein daran bemisst, wie weit sie zum Kern der Wirklichkeit vorzustoßen vermag? Kafkas Erzählung war entstanden in einem Augenblick, da andernorts eine Orgie der Gewalt entfesselt wurde, eine gleichsam hyperreale Gewalt, die ins Phantastische umzuschlagen schien – es wäre ihm ein Leichtes gewesen, diesen Zusammenhang dem Verleger noch viel zwingender vor Augen zu führen (dann allerdings hätte auch der Briefzensor verstanden).
So fremd Kafka das Denken in politischen Begriffen war – ihm war durchaus bewusst, dass die STRAFKOLONIE, die mit dem Tod eines technokratischen Peinigers endet, als entschieden ›zeitgemäße Betrachtung‹ gelesen werden konnte, dass dies alles andere als ein opportuner Text war und dass sich Gründe genug würden finden lassen, die Lesung zu unterbinden. Entschieden wurde darüber im Pressereferat der Münchener Polizeidirektion, der jedes öffentliche {153} Wort vorab einzureichen war, und was die dortige Textexegese erbringen würde, war kaum vorhersehbar. Zumal der Name des Galeristen Goltz in Münchener Polizeikreisen nicht der beliebteste war. Mehrmals schon hatte der Förderer Franz Marcs und Wassily Kandinskys das Straßenpublikum mit modernster Kunst provoziert, und vor den Schaufenstern in der Briennerstraße, gleich neben dem Künstlertreff ›Café Luitpold‹, hatte man die aufgebrachte Menge zerstreuen müssen.
So hing Kafkas Wiedersehen mit der Geliebten vom Wohlwollen eines anonymen und unerreichbaren Münchener Polizeibeamten ab – selbst für ihn, der täglich erlebte, wie Stempel über Existenzen entschieden, eine einprägsame Erfahrung. »Es macht mich noch immer nervös«, gestand er wenige Tage vor der geplanten Reise, »ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es genehmigt wird, so unschuldig es in seinem Wesen ist.« [156] Unschuldig? Nun, eine Verordnung, nach der Staat und Gesellschaft vor Kafkas Erzählung zwingend zu schützen waren, fand sich tatsächlich nicht. Doch den Begriff Strafkolonie , so wurde Hans Goltz bedeutet, sollte man in der öffentlichen Ankündigung doch lieber vermeiden. Denn Strafkolonien fielen ins Ressort des Bayerischen Kriegsministeriums, und dessen Zensor forderte man besser nicht heraus. Und so wählte Goltz unter allen Titeln, die ihm einfielen, einen wahrhaft unschuldigen: »Franz Kafka: Tropische Münchhausiade«. [157]
Konnte es noch schlimmer kommen? Unerwartet traf jetzt die Nachricht ein, dass Brod keinen Urlaub bekam und dass Kafka am Abend des 10.November 1916 den Prager ›Expressionismus‹ ganz allein, ganz auf eigene Rechnung zu vertreten hatte. Mit einer Lügengeschichte.
»Mit den ersten Worten schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten, ein seltsam fader und blasser Geschmack legte sich mir auf die Lippen. Seine Stimme mochte entschuldigend klingen, aber messerscharf drangen seine Bilder in mich ein …
Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder. Die Reihen der Hörer und der Hörerinnen begannen sich zu lichten. Manche flohen im letzten Augenblick, bevor die Vision des Dichters sie überwältigte. Niemals habe ich eine
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