Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
allem auf der Prager Kleinseite hatte er sich umgesehen, abseits der ausgetretenen Pfade, manchmal allein, manchmal mit Ottla, doch stets erfolglos. Nun aber, wenige Tage nach der Rückkehr aus München, kam ein verblüffendes Angebot: eine Wohnung im Schönborn-Palais, nahe dem Kleinseitner Ring, zwei hohe, rot und golden ausgemalte Zimmer, mit Bad, Telefon, elektrischem Licht, und vor dem Fenster der stille, zur Residenz gehörige, sanft ansteigende Park. Ein Traum inmitten der Stadt. Doch der Vormieter verlangte für die Erfüllung dieses Traums eine Abstandssumme, die höher war als die Miete eines ganzen Jahres. Kafka verzichtete – ein wenig vielleicht aus Geiz, vor allem aber, weil ihn die Pracht des ganzen Ensembles abschreckte und weil er sich nicht vorstellen konnte, die Arbeit, die er sich vorgenommen hatte, unter Fresken zu tun.
Vielleicht war es gerade diese Erfahrung, die Kafkas Gedanken auf Ottlas Hütte lenkte, der die elementarsten Bequemlichkeiten fehlten und die das genaue Gegenteil eines barocken Palastes war. Er hätte darin nicht einmal nächtigen mögen. Doch plötzlich verlockte ihn die Vorstellung, dort für ein paar Stunden täglich vor seinen Heften zu sitzen, mit Feder und Bleistift zu spielen, in gänzlicher Abgeschiedenheit. Vom Nachbarn, einem freundlichen älteren Herrn, war trotz der dünnen Wände kaum etwas zu hören, und die Alchimistengasse war auch tagsüber still: kein Hufgeklapper, keine Elektrische. Eines der kleinen Fenster bot den Blick tief hinab in den mit Laubbäumen bestandenen Hirschgraben, ein Panorama, das selbst den Reiseführern ein paar Zeilen wert war. Vogelgesang drang herauf, der einzige Laut, der hier zu hören war. Doch es war Krieg, niemand kam mehr zum bloßen Vergnügen nach Prag: höchst unwahrscheinlich, {161} dass irgendein Tourist in dieses Kämmerchen eindringen und (wie ausdrücklich empfohlen) für die liebliche Aussicht ein Trinkgeld auf den Tisch legen würde.
Ein Experiment war es, und es gelang weit besser, als Kafka sich träumen ließ. Denn Ottla war nicht nur bereit, ihm einen Schlüssel des Häuschens abzutreten, sie sorgte auch dafür, dass es überhaupt benutzbar war. Kohlen mussten herangeschafft werden, und mittags eilte Ottla hinauf, um zu lüften, die Asche aus dem Ofen zu kratzen und einzuheizen. Kam dann auch Kafka gegen 16 Uhr in die Alchimistengasse, so fand er ein sauberes, warmes und stilles Zimmer vor. Dort blieb er vier oder fünf Stunden, wanderte dann hinab zur elterlichen Wohnung, um mit der Familie zu Abend zu essen, und zog endlich weiter in sein eigenes Domizil in der Langen Gasse. Aber auch auf diesen Umweg verzichtete er immer häufiger, lieber trug er etwas Proviant in Ottlas Häuschen und verbrachte den ganzen Abend dort, erst gegen Mitternacht machte er sich auf den Weg nach Hause, hinab über die alte Schlossstiege, manchmal im Schnee, manchmal unter sternenklarem Himmel, ein allnächtliches, beruhigendes Ritual, das den Kopf kühlte und auf den Schlaf vorbereitete.
Ottla war glücklich, den Bruder glücklich zu sehen. Auch wenn sie ihn, seit er von der Familientafel wegblieb, sogar seltener sah als zuvor. Hätte sie erfahren, dass er schon nach wenigen Wochen das Provisorium als »mein Heim«, ja sogar als »mein Haus« titulierte, so hätte sie auch das hingenommen, und eher befriedigt als verärgert. [165] Selbst am Wochenende trat sie gelegentlich vom eigenen Anspruch zurück, um den Bruder nicht zur Unterbrechung des Schreibens zu nötigen: Sie heizte ein, füllte die Petroleumlampe auf und ging dann, ungeachtet der Witterung, stundenlang spazieren. So berichtete sie über den Sonntag, den 3.Dezember: »Ich war auf dem Weg nach Stern und gehe jetzt am Rückweg schauen, was mein Häuschen macht. Nur von außen, innen ist mein Bruder, und ich denke, es geht ihm dort gut. Deshalb tut es mir nichts, dass ich in den Straßen gehen muss.« [166]
Was aber ging dort drinnen vor sich? Das blieb Geheimnis, vorläufig. Mit »Unmöglichkeiten« schlage er sich herum, viel mehr vermochte auch Felice ihm nicht zu entlocken. Was er an einem Tag erschaffe, streiche er am nächsten wieder aus. [167] Nichts Neues also im Goldenen Gässchen. Den angeblichen Vorbewohnern, den {162} legendären Alchimisten, war es drei Jahrhunderte zuvor nicht anders ergangen.
Dass der Staat, die Welt oder die Zeit hin und wieder ›aus den Fugen gerät‹, ist eine jener euphemistischen Redensarten, die ihren dunklen Sinn mit
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