Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
privatistischen und letztlich verantwortungsfreien Sprachspielerei entging. Er las sehr gern vor – teils, weil er das Gelungene erproben, teils, weil er den Genuss des Gelingens teilen und damit vervielfachen wollte. Beides freilich war am ehesten möglich vor kleinem, handverlesenem Publikum, zu dem irgendeine persönliche Beziehung bestand: die eigenen Schwestern; Brod, Baum und Weltsch; die Familie Bauer oder allenfalls noch ein halböffentlicher Kreis wie die Gäste der Frau Direktor Marschner, die einen ›Salon‹ unterhielt.
Etwas schwieriger schon war Kafka zum Betreten eines gänzlich anonymen Schauplatzes zu bewegen – hier rührte sich unvermeidlich sein Widerstand gegen jede Form sozialer Selbstdarstellung, und die Lust am Vorlesen war beeinträchtigt durch Störgeräusche des Über-Ichs, durch den nagenden Zweifel, mit welchem Recht ausgerechnet er sich hier in den Mittelpunkt drängte. Kafka fürchtete seine Adressaten durchaus nicht, doch er stellte die Stacheln auf, sobald deren Neugier an den Texten vorbei auch auf seine Person zielte, und {149} geradezu übel wurde ihm, als ein literaturversessener Gymnasiast ihn als »Ihr sehr ergebener Anhänger« grüßte. [152] Ein einziges Mal hatte er in Prag vor einer Schar Unbekannter vorgetragen, in jenem Rausch der Unbedenklichkeit, in die DAS URTEIL ihn versetzt hatte – doch das lag schon vier Jahre zurück, und seither hatte sich ihm weder eine Gelegenheit geboten, noch hatte er Gelegenheiten gesucht. Selbst im Kreis der Freunde beschränkte sich Kafka seit langem aufs Zuhören. Was hätte er noch vorlesen sollen? Alle warteten auf die Vollendung des PROCESS und des VERSCHOLLENEN. Doch Kafka hatte von den gutgemeinten Aufmunterungen genug, er wusste , dass an einen Roman nicht mehr zu denken war: nicht, solange dieser Krieg dauerte. Und so hatte er sich, um die Stimme zu üben, auf das gelegentliche Vorlesen fremder Texte verlegt, mit Ottla als einziger Zuhörerin, an heißen Sommersonntagen, im Gras liegend, in einem stillen Tal, weit draußen vor der Stadt.
Dieser Friede wurde gestört durch eine unverhoffte Einladung: Die in München ansässige ›Galerie Neue Kunst Hans Goltz‹ schlug Kafka vor, einen literarischen Abend mit eigenen Texten zu gestalten. Das war verblüffend. Denn was hatte er mit dieser Stadt zu schaffen, wer wusste dort von ihm? Einst hatte er in München studieren wollen, hatte zwei Wochen lang sich umgesehen, doch geblieben war davon kaum mehr als eine trübe Erinnerung. Zuletzt war er 1913, auf der Rückreise von Riva, ein paar Stunden dort umhergewandert – das war beinahe schon alles. Die lebendige Schwabinger Szene kannte er gar nicht oder allenfalls aus den von Franz Blei verbreiteten Anekdoten, aber all das war ja längst überstrahlt durch die wie ein Leuchtfeuer wirkende Präsenz der Literaturmetropole Berlin. Dort hätte er gerne vorgelesen. Einige der Prager Bekannten waren seit Jahren ein Begriff in Berlin, selbst Oskar Baum hatte dort Förderer, doch ehe auch Kafkas Name den maßgeblichen Berliner Instanzen zu Bewusstsein gekommen war, hatte der Weltkrieg die noch zarten Beziehungen gekappt.
Dennoch war Kafkas Entschluss, nach München zu reisen, nur eine Sache von Stunden: Kaum hielt er die Einladung in Händen, diktierte er auch schon den Antrag für den obligatorischen Reisepass. Denn rasch wurde ihm klar, dass es sich hier keinesfalls um ein lokales Missverständnis handelte, dass vielmehr der Buchhändler, Verleger und Galerist Hans Goltz ein durchaus ernstzunehmendes und wiederum an der Berliner Avantgarde orientiertes Programm präsentierte: {150} ›Abende für neue Literatur‹ hieß die Reihe, deren Premiere bereits Salomo Friedländer bestritten hatte. Und zugesagt hatten Else Lasker-Schüler, Alfred Wolfenstein und Theodor Däubler. Das konnte sich sehen lassen. Auch wenn es Kafka gewiss nicht behagte, dass der Veranstalter ausdrücklich »deutsche Expressionisten« ankündigte und damit die Lesungen in den Kontext einer Modeströmung stellte.
Wie aber war man gerade auf ihn verfallen? Ein unmittelbarer Anlass war nicht ersichtlich – ausgenommen vielleicht jener verständige und anerkennende Aufsatz, der im Sommer im Berliner Tageblatt erschienen war und der Kafka in einem Atemzug mit Kleist nannte. [153] Oder wusste man schon von der endlich bevorstehenden Buchpublikation des URTEILS, eines dünnen Bändchens, zu dem er seinen Verlag überredet hatte? Auch das nicht – es war alles
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