Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Augenschein, an dem er den Realitätsgehalt seiner Vorstellungen überprüfen könnte. Die mächtige, identitätsbildende Utopie der Wahrheit und des wahren Lebens ist der Kern, um den alle diese Imaginationen kreisen, und das Volksheim, so hat er gehofft, ist ein Beispiel , das sie lehren würde, was diese Begriffe ihm bedeuten. Doch er findet sie unverändert, unbelehrt, und die Kompassnadel, die stets auf Wahrheit ausgerichtet ist, dreht sich. Sie zeigt nicht mehr nach Berlin, sie zeigt auf ein paar leere Schulhefte, die Kafka sich besorgt hat.
»Weihnachten? Ich werde nicht fahren können.« [163] Damit sind diesmal nicht die Passverordnungen gemeint. Felice hat Einwände, macht Vorschläge, über die Kafka kurz angebunden hinweggeht. Er braucht die Feiertage, die wenigen freien Tage für sich selbst, und dringender denn je. Wozu, wird er ihr später erklären.
Ende 1916 senkt sich der Vorhang; erneut reißt die Überlieferung ab. Ein einziger Brief an Felice Bauer ist erhalten aus der ersten Jahreshälfte 1917, aus Kafkas Tagebuch nur wenige Zeilen. Gesehen haben sich die beiden über vier, fünf, vielleicht sechs Monate nicht mehr, {158} ein stilles, unseren Blicken entzogenes, jedoch kaum überraschendes Erlöschen. [164] Denn sobald Kafkas verführerische Stimme schweigt, wird offenkundig, das etwas Entscheidendes fehlt und dass das Ausbleiben jeder kosenden Geste, überhaupt jedes erotischen Moments eine Leerstelle anzeigt, die auf Dauer nicht zu kompensieren ist: weder durch die vereinte Arbeit an der ostjüdischen Aufgabe noch durch die gemeinsamen Probleme einer westjüdischen Identität, ja nicht einmal durch Kafkas wahrhaft virtuose Einfühlung. Symbiose ist denkbar nur in einem Zustand der Selbstvergessenheit, die dem eigenen Begehren sich ausliefert – wie der Traum und der Wahn. Unmöglich hingegen, Symbiose willentlich und planvoll herbeizuführen. Es ist gerade der Aufwand, die Anstrengung, und sei es die zeitweilig geglückte, welche die unvermeidliche Enttäuschung aus sich hervortreibt.
{159} Der Goldmacher
Ich beugte den Kopf auf meinen Bogen herab
und besah mir den Schatten des Federhalters …
S. J. Agnon, DER BRIEF
Längs der nördlichen Umfassungsmauer des Hradschin, an der Innenseite, also noch zur Burg gehörig, befindet sich eines der zahllosen Relikte Alt-Prags: die Alchimistengasse, auch Goldenes Gässchen genannt, ein nur von der Seite zugängliches, da in beiden Richtungen als Sackgasse endendes architektonisches Unikum. An der Mauer klebend, die Mauer durchdringend stehen hier eine Reihe winziger, sämtlich nur aus einem oder zwei Räumen bestehender Häuschen. Die Goldmacher des verrückten Kaisers Rudolf II. sollen hier um 1600 gewohnt haben, so will es die Legende. Wand an Wand stehen diese Behausungen, aufgereiht wie bemalte Schachteln, und ihre Türen sind niedrig, gemacht für Menschen einer anderen Epoche; der Anblick ist anrührend.
Im Herbst 1916 fand eines dieser Häuser eine neue Mieterin: die 24-jährige Ottla Kafka. Eine Kammer mit Feuerstelle im winzigen Keller, schmutzig, abgenutzt und darum für nur 20 Kronen monatlich zu haben. Genau das Richtige, um es als gemütliche Höhle auszustaffieren und in den seltenen freien Stunden dort ein wenig zu entspannen – unbeobachtet von den misstrauischen Blicken des Vaters – oder um unbelauscht mit Irma zu plaudern, der Kusine und besten Freundin. Und würde Ottlas Geliebter Josef David, von dem die Eltern ebenso wenig ahnten wie von der Alchimistengasse, endlich einmal von der Front beurlaubt, dann war das ein idealer Unterschlupf: So hoch über der Stadt war man vor zufälligen Begegnungen einigermaßen sicher.
Ottla ließ das Zimmer streichen, kaufte ein paar Rohrstühle, schlug Kleiderhaken in die Wand, erlernte die Bedienung des widerspenstigen {160} Kohleofens. Viel Aufwand, gemessen daran, dass sowohl sie als auch Irma – beide arbeiteten in Hermann Kafkas Galanteriewarenhandlung – neben dem Sonntag allenfalls eine verlängerte Mittagspause zur freien Verfügung hatten und sich daher mit dem verstohlenen Stolz des eigenen Unterschlupfs im Wesentlichen zufriedengeben mussten.
Ihr Bruder Franz hatte weniger Glück. Auch er dachte seit langem daran, sich endlich einen Ort der Ruhe zu verschaffen und dem Eckzimmer im Haus ›Zum goldenen Hecht‹ zu entkommen, wo er seit bald zwei Jahren Abend für Abend das Ende des allgemeinen Lärms erwartete, kaum anders als zuvor in der Wohnung der Eltern. Vor
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