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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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befragte ihn nach der literarischen Szene in Prag, ja, es wurden ihm sogar Gedichte zur Begutachtung vorgelegt, als sei sein kritisches Wort von Gewicht. Zu rechtfertigen war das nicht, fand er, am wenigsten durch die Leistung, die er selbst in München erbracht hatte. Doch es war kostbar als Mahnung. Kafka erinnerte sich daran, dass er in Prag Rollen spielte, viel zu viele Rollen. Und dass er eine Aufgabe hatte, die unerledigt war.
    Nur wenige Tage ließ er noch verstreichen. Dann betrat er das Büro einer Maklerin. Eine Wohnung brauchte er jetzt, das war der erste, unumgängliche Schritt, eine große, stille und vor allem eigene Wohnung.

    Felice Bauer war die Erste, die den Umschwung zu spüren bekam. Und sie wusste, welchen Anteil sie daran hatte. Denn hinter Kafkas unvermittelter Straffheit verbarg sich eine Enttäuschung, die tiefer reichte als der äußerliche Misserfolg der Lesung. Es war ihnen nicht gelungen, die Intimität von Marienbad hinüberzuretten in eine so eng umgrenzte, von fremden Menschen und von Fahrplänen beherrschte Situation. Was sollte man mit den wenigen Stunden beginnen? Die ersehnte Vertrautheit blieb aus, Spannungen kamen auf, schließlich saßen sie in einer Konditorei und stritten miteinander. Worüber? Wir wissen es nicht. Vielleicht über den Gruß zum jüdischen Neujahrsfest, den Felices strenge Mutter erwartet und den Kafka verweigert hatte. Vielleicht über die Blumen, die er seinen Eltern in Felices Auftrag hatte überreichen sollen – auch das hatte er abgelehnt. Er blieb, wenn es um familiäre Verbindlichkeiten ging, so stur wie eh und je. ›Eigensucht‹ warf sie ihm vor – und das, nachdem Kafka, wie er glaubte, bis zur Selbstaufgabe in ihr Leben eingetaucht, sich mit ihrer Arbeit im Volksheim identifiziert, wochen- und monatelang das gemeinsame Interesse beschworen hatte.
    Es werde nicht wieder vorkommen, beschwichtigte sie von Berlin aus. Doch, es werde gewiss wieder vorkommen, entgegnete er (und sollte damit recht behalten). Aber gerade von ihr, die es doch besser wissen müsste, könne er den Vorwurf der Eigensucht keinesfalls hinnehmen. Dieser Vorwurf sei zwar berechtigt, aber – hier erhob sich plötzlich ein selbstbewusster Ton, der Felice neu war – ebenso berechtigt sei die Eigensucht selbst, »die weniger, unvergleichlich weniger auf die Person, als auf die Sache geht«. Auf die Sache , auf das Schreiben also. Und als müsse er die letzten Schatten des Askanischen Hofs bannen (dessen kalten Anhauch er in der Münchener Konditorei zweifellos verspürt hatte), fügte er hinzu: »mein Schuldbewusstsein ist immer stark genug, es braucht keine Nahrung von aussen, aber meine Organisation ist nicht stark genug, um häufig solche Nahrung hinunterzuwürgen.« Ich sitze auf dem Richterstuhl, niemand sonst. Das war die alte Strategie, auf den kürzesten Nenner gebracht. [162]  
    Kafka zieht die Fühler ein. Sein symbiotisches Begehren hat sein Ziel verfehlt, ist abgewiesen worden – in den Tagen nach München beginnt er zu verstehen, dass es anders nicht sein kann, dass auf Erfüllung nicht zu hoffen ist, solange er darauf besteht, die Literatur in die Symbiose mitzunehmen . Felice aber hat DIE VERWANDLUNG {157} gelesen; in München hat sie – wahrscheinlich unvorbereitet – den Schock der STRAFKOLONIE über sich ergehen lassen. Unfassbar ist ihr, im buchstäblichen Sinne, dass die Entfesselung derartiger Phantasien, das Spiel mit dem Schrecken, das offensive, sogar öffentliche Überschreiten der Ekelgrenze je zu einer Sache werden könnte, an deren Erfordernissen sich das intimste Leben zweier Menschen auszurichten hat. An gutem Willen fehlt es ihr nicht, doch sie fühlt die Grenzen des eigenen empathischen Vermögens. Vage kündigt sie eine ›Lösung‹ an, irgendeine pragmatische Maßnahme, um Literatur und Ehe doch noch zu versöhnen. Doch konkreter wird sie nicht, und an Maßnahmen glaubt wiederum Kafka nicht.
    Abrupt verschwindet das Jüdische Volksheim aus der Korrespondenz. Kafka sendet weiterhin Bücher, besorgt ein Verzeichnis empfehlenswerter Literatur für Jugendliche, lässt gar sein Autorenhonorar nach Berlin überweisen. Doch er fragt nicht mehr, rät nicht mehr, hält nicht mehr das gemeinsame Interesse wach. Felice wiederum begreift nicht den zutiefst imaginativen Charakter seiner Anteilnahme. Das gemeinsame Nachdenken über die ostjüdischen Kinder ist ihm wichtiger als die Kinder selbst, ihre schriftlichen Berichte darum auch wichtiger als der

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