Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
viel einfacher und für Kafka nun allerdings ernüchternd. Denn wie schon beim Fontane-Preis im Jahr zuvor war er wieder einmal nur als Beifahrer gemeint; die eigentliche Einladung aber hatte dem weitaus bekannteren Max Brod gegolten, und dieser hatte vorgeschlagen, irgendwann auch Kafka lesen zu lassen – gemeinsam mit einem anderen Autor, falls das Prager Talent nicht schon Attraktion genug sein sollte. » … meine Lust zu fahren ist entsprechend geringer geworden«, seufzte Kafka. [154] Ein einziger Auftritt in all den Jahren, und selbst den hatte er, wie so vieles, wiederum nur Brod zu verdanken.
An Absage dachte er trotzdem nicht. Denn immerhin bot die Reise nach München auch die Chance, Felice zu treffen – was nicht gering zu schätzen war angesichts der soeben in Kraft getretenen verschärften Passbestimmungen, die Vergnügungsfahrten ins Deutsche Reich so gut wie unmöglich machten. Man hatte jetzt nachzuweisen, dass die Reise notwendig war, man benötigte den österreichischen Reisepass, ein ›Grenzüberschreitungszertifikat‹ sowie einen Stempel des deutschen Konsulats, und selbstverständlich hatte man sich bei der deutschen Polizei an- und abzumelden. Da Lesungen auch damals zu den beruflichen Gepflogenheiten eines Schriftstellers gehörten, wurden sie, gegen Vorlage der Einladung, im Allgemeinen als Reisezweck anerkannt (sofern das betreffende Individuum »verlässlich und unbedenklich« war, wie in Kafkas Polizeiakte nachzulesen ist). Für den Wochenendtrip nach Berlin hingegen hätte er eine neuerliche Verlobungsanzeige vorzeigen müssen, und davon konnte jetzt gar keine Rede sein.
Tatsächlich erklärte sich Felice sofort bereit, zwei kostbare Urlaubstage zu opfern, überdies einen Freitag und einen Sonntag im Zug zu verbringen, nur um Kafka für wenige Stunden wiederzusehen. In solchen Dingen war sie bedenkenlos; ja, sie wunderte sich sogar darüber, dass er nicht die Gelegenheit nutzte, den polizeiwidrigen Umweg über Berlin zu nehmen, wo er doch, beispielsweise, das vielbesprochene Jüdische Volksheim hätte besichtigen können. Doch für Verbotenes war Kafka nicht zu haben, auch wenn er das, der Briefzensur wegen, so ausdrücklich nicht sagen durfte. Immerhin fand er heraus, dass sich die Züge aus Prag und aus Berlin auf ihrem Weg nach München vereinigten, sodass man schon gegen Mittag im Speisewagen Wiedersehen feiern würde – auch er rechnete in Stunden.
Es gab noch andere, ernstere Hindernisse. Was eigentlich hatte Kafka dem Münchener Publikum zu bieten? Aus abgebrochenen Werken vorzulesen kam keinesfalls in Frage – das Selbstbewusstsein eines Thomas Mann, der in ebendiesen Tagen mit seinem FELIX KRULL-Fragment auf Lesereise ging, wäre Kafka wohl nicht einmal als erstrebenswert erschienen. Andererseits galt es, auch den anwesenden Kennern eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie er sich seit seinem Debüt entwickelt hatte und wo er sich gegenwärtig befand. Es gab nur einen einzigen unveröffentlichten Text, der dies leisten konnte: IN DER STRAFKOLONIE. Gerade diese Erzählung aber würde selbst die gutwilligsten Zuhörer einer harten Prüfung unterziehen, und den Beweis dessen hielt er bereits in der Hand. Denn Kurt Wolff, seit wenigen Wochen vom Militärdienst freigestellt und endlich zurück in seinem Leipziger Verlag, hatte Bedenken dagegen erhoben, IN DER STRAFKOLONIE separat zu veröffentlichen. Sein Schreiben ist nicht erhalten, doch Kafkas Antwort lässt erkennen, dass es hier keineswegs um programmtaktische Finessen, sondern um Grundsätzliches ging:
»Ihre freundlichen Worte über mein Manuskript sind mir sehr angenehm eingegangen. Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mit meiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bisher von mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen frei ist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich ist, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine. Gott weiss wie tief {152} ich auf diesem Weg gekommen wäre, wenn ich weitergeschrieben hätte oder besser, wenn mir meine Verhältnisse und mein Zustand das, mit allen Zähnen in allen Lippen, ersehnte Schreiben erlaubt hätten. Das haben sie aber nicht getan. So wie ich jetzt bin, bleibt mir nur übrig auf Ruhe zu warten, womit ich mich ja,
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