Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
sich tragen, um ihn – nach Jahrzehnten der Trivialisierung und Abnutzung – plötzlich auf furchtbare Weise zu enthüllen. Freilich kommt das selten vor, und nicht jede Generation muss es erleben. Traditionen gehen zu Ende, Reichtümer werden verschleudert, und die Leute lachen über die Moral von gestern: Irgendetwas geht immer aus den Fugen, aber die Erde dreht sich, und das Leben geht weiter.
Dass tatsächlich einmal alles aus den Fugen geraten und das Leben, wenn überhaupt, auf ganz andere, unausdenkbare Weise sich fortsetzen würde – diese Ahnung beschlich die Bürger der Habsburgermonarchie zum ersten Mal im Winter 1916/17. Sie hatten sich an den Krieg gewöhnt, betrachteten ihn als vom Schicksal verhängte Plage, deren Ende man geduldig abwarten musste. Der hastigen Lockerung der Sitten, der vom Krieg erzwungenen Veränderung der sozialen Rollen konnte man sogar ein befreiendes Moment abgewinnen – sofern man dazu jung genug war. Die Älteren redeten sich ein, dass aus Schaffnerinnen und Munitionsarbeiterinnen, wenn alles vorbei war, auch wieder Hausfrauen würden. Und der Tod? Jeder kannte jemanden, der um jemanden trauerte, und dass einem so massenhaften, alle sozialen Schichten ergreifenden Unglück nicht die plötzliche Rückkehr zur Normalität folgen konnte, begriff inzwischen selbst der Unbedarfteste. Aber konnte denn ein ganzes Volk im Schmerz erstarren? Das war, aller Erfahrung nach, unmöglich. Jeder Krieg, auch der verlorene, wurde doch irgendwann zur Erinnerung. Selbst diese Wunde, so glaubte man, würde sich schließen.
Nun aber kam der Angriff von völlig unvermuteter Seite, und er richtete sich gegen eine sehr tiefe und empfindliche Schicht, gegen das biologische Substrat der Gesellschaft selbst. Die Menschen begannen, Hunger zu leiden. Schlimm genug, dass man ihnen seit nunmehr zwei Jahren den Bedarf bis auf den letzten Krümel vorrechnete: 40 Gramm Zucker, einen Viertelliter Milch, 20 Gramm Fett und 10 Gramm Kaffee-Ersatz gab es täglich ›auf Karte‹, selbst Brot wurde jetzt aufs Gramm ausgewogen, und mehr als ein Laib pro Woche war nur mit guten Beziehungen zu bekommen. Das erinnerte subtil an die Zuteilung {163} von Futterrationen – ein Eindruck, der noch bekräftigt wurde durch die harsche Aufforderung, die reduzierten Rationen länger zu kauen (was man zumindest den Lebensreformern nicht zweimal sagen musste). Solche amtlichen Demütigungen waren indessen nichts Ungewöhnliches, und wer wollte, konnte in den präzisen Angaben auch etwas überaus Positives sehen: Verteilungsgerechtigkeit. Doch die paternalistische Sprache der Behörden für bare Münze zu nehmen erwies sich (wieder einmal) als unklug. Denn der Verbrauch, der dem Einzelnen zugestanden wurde, war keineswegs auch das gesicherte Minimum, auf das er Anspruch hatte. Zwar wurden in aller Eile städtische Bäckereien und billige ›Volksküchen‹ eingerichtet, um Hungerrevolten vorzubeugen. Doch zu garantieren vermochten die Behörden überhaupt nichts mehr: Sie funktionierten nicht, weder im militärischen noch im zivilen Bereich. Und daran änderte weder das neugegründete ›Volksernährungsamt‹ etwas noch die zahllosen halbstaatlichen ›Zentralen‹, die während des Krieges alle Verwertungskreisläufe überwachen sollten (selbst eine Zentrale für Lumpen gab es), noch auch die drakonischen Strafen gegen ›Schleichhandel‹ und illegale Vorräte.
Moralischer Druck war ein probates Mittel, dieses unerwartete staatliche Versagen zu verschleiern und letztlich in die Verantwortung der Bevölkerung zu stellen. Wer sich darüber beklagte, dass städtisches Brot zunehmend aus Kartoffelmehl, Eicheln und Sägespänen bestand, wem Brennesseln nicht schmeckten oder wer etwas gegen Zigaretten hatte, die zur Hälfte mit Buchenlaub gefüllt waren, der musste sich streng daran erinnern lassen, dass ›unsere Kämpfer draußen im Feld‹ ganz andere Sorgen hatten (was nicht einmal stimmte, wenn man die Fronturlauber reden hörte). Auch die Personalisierung des Problems war ein beliebter Notbehelf, um die wachsende Wut der Bevölkerung in andere Kanäle zu lenken: Da man öffentlich nicht zugeben konnte, dass die allgemeine Not nicht zuletzt ein Erfolg der gegnerischen Seeblockade war, und da die Presse ebenso wenig über das katastrophale Versagen der Administration berichten durfte, agitierte sie umso heftiger gegen gewissenlose ›Hamsterer‹ und (mit Vorliebe jüdische) ›Zwischenhändler‹, die Knappheit erzeugten,
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