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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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um die Preise in die Höhe zu treiben.
    Doch je mehr Menschen nun ihrerseits gezwungen waren, Gesetze zu missachten, sich auf dem Schwarzmarkt zu versorgen oder gar den {164} Bauern bei Nacht und Nebel die Feldfrüchte zu stehlen, desto geringer wurde das entlastende Moment spektakulärer Prozessberichte, desto weniger half das Schimpfen auf die wenigen Nutznießer des Krieges. Auf Dauer war der Hunger stärker, die Körper verlangten nach anderem als nach Propaganda, und vor aller Augen wurde unabweisbare Wirklichkeit, was bislang niemand sich hatte vorstellen können: Ein wohlhabender und mächtiger Staat in der Mitte Europas, ein Staat mit glanzvoller Geschichte und imperialen Ambitionen, war nicht mehr in der Lage, seine Bürger satt zu machen. Und er würde sie, wenn nicht ein Wunder geschähe, im nächsten Winter auch frieren lassen. Das Gefühl einer elenden leiblichen Unbehaustheit breitete sich aus, ein Bettler-Gefühl.
    Der Schock und die psychischen Verwerfungen aber, die durch dieses Versagen ausgelöst wurden, reichten über die unmittelbare körperliche Entbehrung weit hinaus. Die Menschen fanden sich ausgesetzt in einer Wolfsgesellschaft, in der Fleiß, Sparsamkeit und Loyalität nicht mehr belohnt wurden. Gefragt waren stattdessen soziale Schläue und dreistes Durchsetzungsvermögen, Flexibilität und beste Beziehungen. Das aber bedeutete die Auflösung, ja geradezu die Umkehrung des bürgerlichen Wertesystems – eine moralische Katastrophe, die Angst und Verzweiflung erregte.
    Trotzdem, oder gerade deshalb, vermochte noch kaum jemand daran zu glauben, dass es sich um eine irreversible Entgleisung des Systems handelte. Stattdessen wurden Schuldige gesucht. Man schimpfte auf die Indolenz der kleinen Beamten, dann auf die Behörden, die keine Vorsorge getroffen hatten, schließlich auf die Armeeführung, die sich aus den schmelzenden Ressourcen rücksichtslos bediente, nicht zu vergessen die Ministerriege in Wien, die offenbar unfähig war, ein Machtwort zu sprechen. Die hungernden Wiener ihrerseits schimpften auf die Ostjuden, die sich mit ihren vielen Kindern in die Warteschlangen drängten; dann auf die Ungarn, die kein Getreide mehr lieferten, weil ihnen die Verpflegung ihrer Rinder und Schweine wichtiger war; schließlich auf die Tschechen, die von den vereinbarten Kohlelieferungen mehr und mehr für sich selbst abzweigten. Und immer öfter war ein Seufzer zu vernehmen, der die um sich greifende soziale Regression auf den genauen Begriff brachte: ›Wenn das der Kaiser wüsste!‹
    Tatsächlich, die engste Umgebung des Monarchen blieb das ruhende {165} Auge inmitten jener Kakophonie des Hasses und der ziellosen Verzweiflung: ein rechts- und politikfreier Raum, in den jeder projizieren durfte, was ihn glücklich machte, und wo alle gemeinsam an einem völlig illusorischen Gefühl der Nähe sich erwärmen konnten. Über die persönlichen Schicksalsschläge, die Franz Joseph I. in seiner unendlich langen Regierungszeit hatte hinnehmen müssen, war jeder Zeitgenosse in allen Einzelheiten informiert. Von der tatsächlichen Verantwortung hingegen, die der Kaiser für Tod, Verstümmelung und Auszehrung seiner Untertanen trug, hatte niemand auch nur die blasseste Vorstellung. Um fünf Uhr morgens begab sich der pflichtgetreue Herrscher an die Arbeit, das wusste jedes Schulkind. Worin diese Arbeit eigentlich bestand, hätte kaum jemand sagen können. Als gebende, gewährende Figur stand er vor aller Augen: Wen der Kaiser zur Audienz gebeten, wen er befördert oder ausgezeichnet hatte, bildete den wesentlichen Inhalt der täglichen Meldungen aus der Hofburg; das Übrige waren väterliche Ermahnungen, Danksagungen und Durchhalteparolen. Was der Kaiser eigentlich wollte, an welchen Beschlüssen er beteiligt war und was er höchstselbst entschieden hatte, von alledem erfuhr man nur ausnahmsweise (und auch die Prager erfuhren nicht, dass er ihnen das Kriegsrecht erspart hatte). Im März 1915 hatte er angeordnet, sämtliche Hofgärten in Gemüsebeete umzuwandeln. Den Untertanen zuliebe. Daran erinnerte man sich.
    Die Spitze der Machtpyramide mit einem beständigen Nebelschleier zu umgeben, den Kaiser als politikferne und überparteiliche Figur zu präsentieren: Das hatte Tradition in Österreich und entsprach einem durchaus einsichtigen politischen und sozialpsychologischen Kalkül. In einem Staat aber, der sich am Rande des Abgrunds befand und dessen öffentlicher Diskurs fast völlig von Verteilungskämpfen

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