Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
eines pausenlosen Überlebenskampfs gewann. Viel Genießbares war dort nicht mehr aufzutreiben, und auch mit dem Gehalt einer Prokuristin war man durchaus angewiesen auf die neuerdings angebotene ›Einheitswurst‹ (die so schmeckte, wie sie hieß) und auf die amtlich zugestandenen 0,7 Eier pro Woche. Es war Julie Kafka völlig unbegreiflich, dass ihr Sohn seine langjährige Freundin nicht über die Weihnachtstage an die Familientafel nach Prag einlud, wo man ihr noch immer Besseres hätte vorsetzen können als Viehfutter. Aber auch Felice schien ihren Besuch keineswegs anzubieten. Sah so eine Versöhnung aus? [170]
Kafka selbst, der wenig zu sich nahm, fiel es offenbar leichter, sich mit den schwindenden Tagesrationen zu arrangieren: Ihn lockten weder Fleischplatten noch Kuchenteller, und die mittlerweile trostlosen Speisekarten von Restaurants und Kaffeehäusern gingen ihn nichts an. Gegenüber der besorgten Ottla behauptete er sogar, in der Alchimistengasse habe er jeden Abend mehr Vorräte, als er {168} essen könne [171] , und selbst der bedrohliche Mangel an Kohlen (nächtliches Heizen war bereits verboten) konnte ihn nicht davon abhalten, so lange wie möglich in seinem neuen Refugium auszuharren. Als Brod ihn einmal dort oben besuchte und sich ein wenig vorlesen ließ – es gab jetzt wieder etwas zum Vorlesen –, staunte er über diese »Klosterzelle eines wirklichen Dichters« und gewann den Eindruck, Kafka leide unter dem Grauen des dritten Kriegswinters weniger als er selbst. [172] Das mochte stimmen: Es war eben, hätte Kafka ihm antworten können, das Zeitalter der Asketen. Eine finstere Zeit, eine eisige Zeit, Schreibzeit.
Überliefert sind aus diesem Winter 1916/17 insgesamt vier unlinierte Oktavhefte zu je etwa achtzig Seiten: ein kleines, handliches Format, geeignet, in der Brusttasche durch die Stadt getragen zu werden. Zwei weitere Hefte, die Kafka benutzt haben muss, sind verschollen.
Öffnet man diese unscheinbaren, bis zur letzten Seite vollgeschriebenen Kladden (die Kafka-Philologie spricht von den ›Oktavheften A bis D‹), so bietet sich ein verblüffender und verwirrender Anblick: lange, kurze und kürzeste Eintragungen, Prosa und Dialog, ein paar lyrische Zeilen, Datiertes und Undatiertes, Normalschrift und Stenographie in willkürlichem Wechsel, seltene Überschriften, seitenlange Streichungen, wörtliche Wiederholungen, abgerissene Sätze, fließende Übergänge und lange Trennungslinien, dazwischen Kritzeleien, rätselhafte Namen, eine Adresse, Briefentwürfe, eine Stichwortliste für Erledigungen, herausgerissene und vertauschte Blätter, ein beigelegter Zettel … alles wie auf den Knien geschrieben. Es ist – nach den ungeordneten Heften des PROCESS-Manuskripts – die zweite schwere Prüfung, die Kafka seinen künftigen Editoren hinterließ, eine Aufgabe, an der dann Max Brod auf lehrreiche Weise scheitern sollte. [173]
Auch der zweite Blick macht diesen Text-Dschungel nicht vertrauter. Ein zeitgenössischer Leser, selbst ein Kenner der wenigen veröffentlichten Werke Kafkas hätte hier nichts wiedererkannt: keine Rede von ›Kleistscher Diktion‹, von realistischem Erzählen, keine kühl injizierte Phantastik und auch nicht der Humor des Slapsticks und der sorgfältig inszenierten Fehlleistung, den Kafka zuletzt noch in der aufgegebenen BLUMFELD-Geschichte so lustvoll entfaltet hatte. Stattdessen eine noch immer beherrschte, doch weit radikalere Entfesselung {169} der Einbildungskraft, ein beispielloser Tanz zwischen Welt und Sprachwelt. »Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke«, lauten die ersten Worte in Heft B; »Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich«, heißt es ein paar Seiten weiter; »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«, prophezeit ein Untoter; »Wir lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen«, berichtet ein Reisender, und: »Gestern kam eine Ohnmacht zu mir. Sie wohnt im Nachbarhaus … «.
Auch den heutigen Leser, mit einigen dieser Texte schon bekannt, wird der experimentelle Kontext irritieren, in dem er sie in Kafkas Heften vorfindet (beziehungsweise in deren Kritischer Edition): Es gibt unzählige Varianten, Unterbrechungen, Perspektivwechsel und Querverbindungen. Wie flüssige Lava erscheint diese Handschrift, und sie erweckt die Illusion, Bewegung sei auch dort noch möglich, wo Kafka selbst sich für eine definitive, ›druckreife‹ Version entschieden hat. »Wir alle kennen den Rotpeter«, beginnt in Heft D eine
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