Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
und von nationalistischem Gezänk beherrscht wurde, blieb gar keine andere Wahl, als den Monarchen konsequent ›herauszuhalten‹. Er war der Große Mittler, der letzte gemeinsame Referenzpunkt, hinter dem das Chaos drohte und dessen Bedeutung daher niemand in Frage zu stellen wagte. Undenkbar, dass eine der Parteien sich an ihm hätte vergreifen können, gar in Gestalt eines physischen Angriffs, wie es eben jetzt, im Oktober 1916, dem k.u.k. Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh geschehen war. [168] Ebenso undenkbar aber, dass dieser Über-Vater sich eines Tages abwenden, dass seine Dynastie erlöschen könnte. Selbst unter den aggressivsten Nationalisten waren bisher {166} nur wenige, die sich eine Nachkriegswelt ohne das Haus Habsburg vorstellen konnten.
Doch diese Frage drängte nun plötzlich an die Oberfläche: Franz Joseph I. starb am 21.November 1916, nur einen Tag nach Eröffnung der 5. Kriegsanleihe, einen Monat nach dem gewaltsamen Tod seines Ministerpräsidenten, unfassbare 68 Jahre nach seiner Krönung zum Kaiser von Österreich. Das bekannte Bonmot, dass die Habsburger Untertanen unter ein und demselben Kaiserbildnis geboren wurden und starben, war so fern von der Wahrheit nicht: Viele hatten in dem Gefühl gelebt, der Kaiser sei immer schon präsent gewesen, und es wäre schwergefallen, jemanden ausfindig zu machen, der an die sagenhafte Zeit vor Franz Joseph sich lebhaft hätte erinnern können.
Die allgemeine Erschütterung aber überstieg bei weitem die Trauer, die der Tod eines hinfälligen Herrschers zu anderen Zeiten ausgelöst hätte. Ein symbolischer Weltuntergang für jeden Einzelnen: unabweisbar die Erkenntnis, dass es nach diesem Verlust keine Rückkehr zur saturierten, in der Erinnerung zunehmend verklärten Welt der Jahrhundertwende mehr geben konnte, selbst dann nicht, wenn dieser Krieg noch irgendwie ›glimpflich‹ zu Ende ging (woran tatsächlich nur noch Generäle glaubten). Gewiss, ein legitimer Nachfolger stand bereit, und nur wenige Stunden nach der Schreckensnachricht wurde der 29-jährige Erzherzog Karl, ein Großneffe Franz Josephs, zum Kaiser bestimmt. Die Dynastie blieb am Leben. Doch die sichtlichen Anstrengungen Karls I., sich sogleich Autorität zu verschaffen und der Versorgungskrise mit energischen Maßnahmen zu begegnen, bewiesen bei allem guten Willen, dass der neue Kaiser etwas zu beweisen hatte und dass er als Politiker agierte, verstrickt in die pragmatischen Erfordernisse des Tages. Die symbolische Repräsentanz aber blieb leer. Der letzte Anker hatte sich losgerissen; keine Instanz weit und breit, welche die Welt hätte daran hindern können, nun definitiv ›aus den Fugen zu gehen‹.
Kein Zweifel, dass die heftigen sozialen Beben am Ende des Jahres 1916 auch Kafka erschütterten. In welchem Maße er sie bewusst reflektiert hat, ist aus den zugänglichen Quellen nur indirekt zu ermessen – dass sie ihn physisch trafen, ist gewiss. Denn auch die vermögenden Kafkas litten Mangel, trotz der vielfältigen und hilfreichen Beziehungen, die {167} sie als Großhändler ins Prager Umland hatten. Ein Brief Julie Kafkas an Felice Bauer – verfasst noch ganz zu Beginn jenes Katastrophenwinters – lässt unzweideutig erkennen, dass schon jetzt weder Geld noch Beziehungen mehr satt zu machen vermochten:
»Wir hielten die jüdischen Feiertage wie rechte Juden. Neujahr [das jüdische Neujahrsfest am 28./29.September] hatten wir beide Tage das Geschäft gesperrt und gestern am Versöhnungstage haben wir gefastet und fleißig gebetet. Das Fasten wurde uns nicht schwer, da wir uns schon das ganze Jahr dazu trainieren. Übrigens ist es mit dem Hunger bei uns in Prag noch nicht so arg und es würde uns sehr freuen, Dich bei uns recht bald begrüßen zu können.« [169]
Das war deutlich: Auch dem Zensor (den Julie offenbar weniger fürchtete als ihr Sohn) kann der Sinn dieser Mitteilung kaum entgangen sein. Denn dass der Hunger »bei uns in Prag noch nicht so arg« sei, das konnte nur heißen: nicht so arg wie in Wien, wo es bereits zu Plünderungen und Unruhen gekommen war, und vor allem: nicht so arg wie bei Euch in Berlin. Wenngleich noch niemand vorhersehen konnte, dass die folgenden Monate als ›Kohlrübenwinter‹ in die deutsche Geschichte eingehen und dass in den Städten Tausende an Unterernährung sterben würden, so hatte sich doch längst herumgesprochen, dass der Alltag in der deutschen Hauptstadt, anders als in Prag, allmählich die verzerrten Züge
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