Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
bat ihn schließlich mit entwaffnender Geste, sich der Gesellschaft anzuschließen.
Kafka gibt nach. Er weiß bereits, dass er an diesem Tisch der einzige Jude sein wird. Es gibt viele Juden in Meran, bei ›Frau Emma‹ hat er einige gesehen und sogar gesprochen, und wenige Minuten von der Ottoburg entfernt befindet sich ein ›Genesungsheim für unbemittelte Israeliten‹. Hier aber ist er der einzige, und das wird ihm, wie er wahrscheinlich ahnt, eine schmerzliche Erfahrung bereiten.
Dass er, sehr bald schon, sein stilles Gartenzimmer zum Ort eines nie gekannten Rauschs machen wird, übersteigt hingegen seine Vorstellungskraft. Auch kann er nicht wissen, dass er die milde Luft des Südens zum letzten Mal einatmet, dass die Palmen, Zypressen und Pinien, die hier überall gedeihen, die letzten sind, die er in seinem Leben zu sehen bekommt. Er ist froh, weg zu sein, gewiss auch froh, nicht in München zu sein, er gibt sich der Beobachtung hin, wie er es auf Reisen gewohnt ist, er liest Zeitungen und trinkt die lange entbehrten Fruchtlimonaden. Gelegentlich erstattet er brieflichen Bericht an Ottla, an Brod; gehorsam meldet er den Eltern, was es in der Pension zu essen gibt. Seiner eigentlichen Arbeit gegenüber verspürt er keine Verpflichtung, er schreibt nicht, hat neben seinen geheimen Meditationen schon lange nichts mehr geschrieben, und dass er einmal erregende Geschichten erfunden hat, scheint augenblicklich anderen bedeutsamer als ihm selbst.
Beispielsweise einer jungen Tschechin, einer Frau Milena Jesenská-Pollak. Von ihr hat er im vergangenen Jahr aus Wien eine Anfrage erhalten, die Bitte, etwas ins Tschechische übersetzen zu dürfen. Er hat nichts dagegen, ist sogar ein wenig stolz, hat den Brief seiner {347} Verlobten Julie gezeigt, wenige Tage vor der geplanten Hochzeit. Im Winter hat er die aus Prag stammende Frau Pollak flüchtig in einem Kaffeehaus getroffen, er erinnert sich nur undeutlich an ihr Gesicht, dann kam aber noch ein Brief, in dem sie darüber klagt, in Wien nicht mehr atmen zu können. Das interessiert ihn. Eine verlässliche Gesprächspartnerin scheint sie nicht, eine Erkundigung Kafkas lässt sie unbeantwortet. Auf ihre Übersetzung aber ist er allzu neugierig, in Meran hat er Zeit, auch für Briefe, die ins Leere gehen, nichts spricht dagegen, noch einmal anzuklopfen. »Ich lebe hier recht gut«, versichert er ihr, »mehr Sorgfalt könnte der sterbliche Leib kaum ertragen … Ich würde Ihnen Meran so sehr gönnen … « [407]
Sie antwortet auch diesmal nicht. War dieser Ton schon zu persönlich? Oder ist in Wien etwas geschehen? Er weiß, die junge Frau hat dort ein schweres Leben, obgleich sie verheiratet ist. Er fühlt sich verpflichtet, ein weiteres Mal nachzufragen, ein wenig dringlicher. Warum sie denn, wenn es ihr schlecht ergehe in Wien, die Stadt nicht für einige Zeit verlasse?
Das ist leicht zu beantworten. Sie müsse arbeiten, erklärt Frau Pollak nun endlich, sie müsse arbeiten, weil sie von ihrem Ehemann keinen Heller bekomme. Sie schreibe für Zeitungen, schlechte Feuilletons zumeist, und nachts übersetze sie, zuletzt eben Kafkas HEIZER.
Außerdem sei sie lungenkrank.
{413} Flucht in die Berge
Aber nun fehlte mir eine genauere Anweisung
wie ich meine Buße einzurichten hätte.
Christian Friedrich Daniel Schubart, LEBEN UND GESINNUNGEN
»Wollen Sie eine Spazierfahrt machen?« Kafka glaubte, nicht recht gehört zu haben. Wieder einmal war er unter den letzten Besuchern der ›Schwimmschule‹ an der Sophieninsel, es war schon gegen Abend, und gedankenverloren wanderte er am Rande des großen Bassins entlang. Da trat einer der Bademeister auf ihn zu und sprach ihn an.
Eine Spazierfahrt? Damit konnten nur die gleich nebenan vertäuten Ruderboote gemeint sein. Doch natürlich war die angebotene Fahrt nicht gratis. Vielmehr ging es darum, einen vornehmen Herrn, einen tschechischen Bauunternehmer, auf die andere Seite der Moldau zu fahren, zur Judeninsel. Offenbar suchte der Bademeister einen Ruderer, der jung und kräftig genug war, um die Fahrt als Vergnügen aufzufassen, doch wiederum alt genug, um das Boot zuverlässig zurückzubringen. Noch ehe Kafka die Situation recht begriffen hatte, trat Herr Trnka hinzu, der Pächter der Badeanstalt. Ob denn dieser Junge überhaupt schwimmen könne? Der Bademeister versicherte, es sei alles in Ordnung. Dann kam auch schon der tschechische Passagier. Sie bestiegen das Boot, und Kafka legte sich in die Riemen, immer
Weitere Kostenlose Bücher