Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
Vom Netzwerk:
dienstfähig gewesen, und es sah nicht danach aus, als ob er jemals völlig wiederhergestellt sein würde. Andererseits bedeutete der neue Posten eine Entlastung für ihn. Er war nun nicht mehr stellvertretender Leiter einer aufgeblähten Abteilung, in der er sich – neben der allseits gefürchteten Einreihung tausender Betriebe in Gefahrenklassen – auch noch um Unfallschutz, Rehabilitationsmaßnahmen {341} und behördliche Publikationen kümmern musste; statt dessen konnte er sich als Chef des ›Gemeinsamen Konzeptsreferats‹ völlig auf die juristisch belangvolle Korrespondenz konzentrieren, die in den anderen Abteilungen anfiel. Und da man beschlossen hatte, die 1919 fällige ›Einreihung‹, die jedes Mal eine Lawine von Beschwerden und Prozessen nach sich zog, um Jahre zu verschieben (tatsächlich erlebte Kafka keine dieser Einreihungen mehr), war es derzeit verhältnismäßig ruhig an der juristischen Front. Allein der etwas sonderbare organisatorische Status seines Postens dürfte für Gesprächsstoff gesorgt haben. Denn während in den neu geschaffenen verkleinerten Abteilungen, denen Kafka jetzt zuarbeitete, noch immer Dutzende von Beamten saßen, bestand das ›Gemeinsame Konzeptreferat‹, das formell ebenfalls eine Abteilung war, aus einem einzigen Arbeitsplatz. Kafka war Vorstand einer Ein-Mann-Abteilung und damit Vorgesetzter von niemandem .
    Odstrčil war zuvorkommend, konnte jedoch recht empfindlich reagieren, wenn er sich übergangen fühlte. Er war erst 41 Jahre alt, seine Autorität war noch nicht gefestigt, der Dienstweg also unbedingt einzuhalten. Das hatte er auch seinem Hausjuristen unmissverständlich klargemacht, als der sich – überdies schon zum zweiten Mal – einige zusätzliche Urlaubstage selbst genehmigt hatte. Doch das alles war vergessen, als Kafka, der schon wieder fiebrige Tage im Bett verbracht hatte, Ende Februar 1920 im Büro des Direktors saß, um über die Konsequenzen aus jenem fatalen Gutachten zu sprechen. Dr.Kodym hatte eine längere Kur in einem Sanatorium empfohlen; zwei Monate waren es, die Odstrčil vorläufig bewilligen konnte. Und er fügte hinzu: ›Wenn es Ihnen dort gut geht, schreiben Sie an die Anstalt, und Sie können auch länger bleiben.‹ [402]   Am folgenden Tag erhielt Kafka den Krankenurlaub auch schriftlich, einen weiteren Tag später die Einzelheiten seiner Gehaltserhöhung. Wer Protektion genoss, war gut aufgehoben in dieser Anstalt, daran hatte sich bemerkenswert wenig geändert.
    Dass Kafka das Frühjahr keinesfalls in Prag verbringen würde, hatte er schon vor Monaten entschieden, vermutlich kurz nach der gescheiterten Hochzeit und nach den Gesprächen mit Brod in Schelesen. »Im Feber will ich mit einigen Hoffnungen für vielleicht ¼ Jahr nach München fahren«, hatte er angekündigt, und er hatte sogar Julie Wohryzek vorgeschlagen, ihn dorthin zu begleiten. [403]   Ein {342} erstaunlicher Entschluss, in mehrfacher Hinsicht. Denn würde er Dezember und Januar fieberfrei überstehen, konnte er für München allenfalls den regulären fünfwöchigen Urlaub verwenden und musste danach unbezahlten Urlaub beantragen. Würde sich sein körperlicher Zustand hingegen verschlechtern, würde ihn der Amtsarzt gewiss nicht in einen ›Kurort‹ mit 630 000 Einwohnern schicken.
    Doch warum gerade München, welche »Hoffnungen« weckte diese von politischen Morden und blutig erstickten Revolten erschütterte Stadt, zu der doch Kafka seit seiner Lesung drei Jahre zuvor keinerlei nennenswerte Beziehungen mehr unterhielt? Damit konnte er nur auf den Kurt Wolff Verlag abzielen, der soeben, seit Oktober 1919, mit der Mehrzahl seiner inzwischen sechzig Angestellten von Leipzig nach München übersiedelte. Wolff, der jahrelang zwischen Darmstadt und Leipzig gependelt war, wollte endlich Verlag und Wohnsitz am selben Ort, er wollte die Vorzüge des Münchener Publikums, das im Gegensatz zu den Leipziger Krämern als besonders ›kunstsinnig‹ galt, mit einem klimatisch und kulturell angenehmen Lebensumfeld kombinieren, und er hörte diesmal nicht auf den Rat seines Geschäftsführers Meyer, den es natürlich in die Medienstadt Berlin zog. Der Umzug aber lähmte den Verlag über Monate, beheizbare Wohnungen in München waren kaum zu bekommen, die Versorgungslage war katastrophal, ein Streik der Buchhändler sorgte für weitere Stockungen – auch Kafka muss klar gewesen sein, dass es unter diesen Umständen zwecklos war, nach dem Schicksal seiner

Weitere Kostenlose Bücher