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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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konstatiert hatte: beidseitige Infiltration der Lungenspitzen, Empfehlung eines mindestens dreimonatigen Aufenthalts in einem Sanatorium. [492]   Dieses Gutachten wurde ohne weitere Verzögerung dem Verwaltungsausschuss zugeleitet, und schon wenige Tage später – ohne dass Kafka überhaupt einen Antrag gestellt hatte – wurde beschlossen, ihm einen neuerlichen, vorerst dreimonatigen Urlaub zu gewähren. Die mündliche Mitteilung erfolgte sofort, Kafka wurde dafür eigens zum Direktor bestellt. Ein wahrhaft kurzer Prozess, für den er sich auch noch bedanken durfte.
    Warum aber dieser hartnäckige Widerstand? Vieles spricht dafür, dass Kafka, der seit mehr als einem halben Jahr von der Auseinandersetzung mit Milena völlig absorbiert war, sich vor allem nach geistiger Regeneration sehnte. Das Gefühl des Ausgeliefertseins, ja der Würdelosigkeit, dem er seit kurzem mit regelmäßiger literarischer Arbeit begegnete, würde in einem Sanatorium mit doppelter Wucht zurückkehren: daher die Gewaltphantasien, die, so ›übertrieben‹ {416} sie waren, für ihn die Wahrheit dieses Augenblicks repräsentierten. Natürlich hatte er sich nach den in Frage kommenden Sanatorien längst erkundigt, er hatte Prospekte studiert und Preise verglichen. Seiner alten Theorie aber, dass der Körper unmöglich gesünder sein könne als die Psyche, hing er nach wie vor an, und Maßnahmen, die allein auf das leibliche Befinden zielten, hielt er für ebenso naiv wie nutzlos – ganz gleich, ob sie von Schulmedizinern oder von Naturheilkundlern verordnet waren. »Aufs Land würde ich gerne fahren«, schrieb er an Milena, »noch lieber in Prag bleiben und ein Handwerk lernen, am wenigsten gern fahre ich in ein Sanatorium. Was soll ich dort?« [493]   Wenige Minuten, nachdem er diese Zeilen niedergeschrieben hatte, ereilte ihn die Nachricht, dass die Anstalt ihn in den Urlaub schickte. Aber keineswegs nach Zürau und erst recht nicht in eine Prager Tischlerwerkstatt.
    Es war eine konzertierte Aktion, und sie hatte Erfolg: Kafka, der für seine Verweigerung nirgendwo Verständnis fand, beugte sich endlich dem Druck, er beschloss, ins niederösterreichische Sanatorium Grimmenstein zu fahren, zwei Bahnstunden südlich von Wien. Hier waren zwar keine pensionierten Henker am Werk, doch der Aufenthalt war um ein Vielfaches teurer als in Meran, was Grund zu weiteren Klagen bot. [494]   Freilich gab es auch eine Lockung: Die Fahrt nach Grimmenstein würde eine Begegnung mit Milena ermöglichen, ohne alle Pass-Schwierigkeiten, und selbst während der Kur konnte man sich gelegentlich auf halbem Wege treffen, auch wenn das natürlich ›gegen die Vorschrift‹ und auch aus sonstigen Gründen unvernünftig war. Doch die Versuchung war noch immer unbeherrschbar, trotz der ernüchternden Erfahrung von Gmünd und trotz Kafkas Einsicht, dass solches Beisammensein, ohne jede Perspektive auf gemeinsames Glück, nichts als ein süßes Gift war. Dass die körperliche Nähe neue, illusorische Wünsche weckte, war unvermeidlich, der Preis dafür war ein brennender Kopf, der sein Unglück an die Lunge delegierte. Wenn es aber Kafka ernst meinte, dass die Tuberkulose eine über die eigenen Ufer tretende geistige Krankheit war, musste er dann solche Erschütterungen nicht vermeiden?
    Die Vorbeben kündigten sich bereits in Prag an: Kaum hatte er den Entschluss gefasst, nach Österreich zu fahren, begann eine neuerliche Serie ebenso schlafloser wie literarisch unproduktiver Nächte, die er damit zubrachte, sich das Zusammentreffen in Wien auszumalen. Dort {417} warteten bilanzierende Fragen auf ihn, denen er sich schlechterdings nicht entziehen konnte: War nicht er es gewesen, der immer an das große Trotzdem appelliert hatte, an die in jedem Augenblick bestehende Chance, durch einen einzigen festen Entschluss das Steuer herumzureißen? Hatte sie nicht geduldig zugehört, ermuntert, getröstet? Durchaus denkbar, dass Kafka in diesen Tagen Erinnerungen an den Askanischen Hof durchzuckten, auch dort hatte man mit vollem Recht Erklärungen verlangt, die er nicht geben konnte, Erklärungen überdies, die sich nicht mehr auf den offenen Horizont des Lebens, sondern ausschließlich auf die Vergangenheit bezogen. Ein Tribunal, das die Schuld bemaß und das selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Freispruchs keinen Funken verlorener Hoffnung zurückbringen konnte. Der Unterschied war, dass Kafka das Tribunal diesmal kommen sah. Und das eröffnete ihm die Chance,

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