Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
rechtzeitig den Platz des Richters zu beanspruchen und aus eigener Vollmacht die Konfrontation zu vertagen. Am Morgen des 2.Dezember war die Entscheidung gefallen: Nach einer weiteren, nahezu schlaflosen Nacht änderte er unvermittelt die Richtung und ergriff die Flucht.
»Ich habe nicht die Kraft zu fahren; die Vorstellung, dass ich vor Dir stünde, kann ich im voraus nicht ertragen, den Druck im Gehirn ertrage ich nicht.
Schon Dein Brief ist unaufhaltbare, grenzenlose Enttäuschung durch mich, nun noch dies. Du schreibst, Du habest keine Hoffnung, aber Du hast die Hoffnung, vollständig von mir gehn zu können.
Ich kann Dir und niemandem begreiflich machen, wie es in mir ist. Wie könnte ich begreiflich machen, warum es so ist; das kann ich nicht einmal mir selbst begreiflich machen. Aber das ist auch nicht die Hauptsache, die Hauptsache ist klar: im Umkreis um mich ist es unmöglich menschlich zu leben; Du siehst es, und willst es noch nicht glauben?« [495]
Zwei Wochen später saß Kafka in einem Zug, der nach Osten fuhr. Es war hohe Zeit, und die beständigen Fragen, was er denn, mit diesem deprimierenden ärztlichen Befund, im tiefsten Winter noch in Prag zu suchen habe, wurden allmählich lästig. Alle bedrängten ihn, einige begleiteten ihn zum Bahnhof, darunter wahrscheinlich Ottla, die für einige Tage hatte mitkommen wollen, die dann aber wegen ihrer Schwangerschaft (und vielleicht auch aus Furcht vor Ansteckung) lieber in Sicherheit blieb. Er reiste 2. Klasse, wie im Frühjahr nach Meran. Doch diesmal erwarteten ihn weder Blütenduft noch Palmen.
Er erreichte sein Ziel erst spät am Abend. Ein zweispänniger, offener Schlitten wartete vor dem Bahnhof und nahm ihn auf. Eine halbstündige Fahrt, durch finsteren Wald und über Schneefelder, die im Mondlicht glänzten. Dann tauchte das Sanatorium auf, ein scheinbar alleinstehendes, großes, wie ein Hotel ringsum erleuchtetes Gebäude. Doch noch bog der Kutscher nicht ab, nach einigen Sekunden war Kafka erneut vom Dunkel umhüllt, schließlich hielt das Gefährt vor einem kleineren, unbeleuchteten Nebengebäude. Kein Mensch war zu sehen, man musste rufen, dennoch dauerte es eine Weile, ehe endlich ein Dienstmädchen erschien und Kafka durch einen eiskalten Korridor zu seinem Zimmer führte. Die elektrische Beleuchtung flammte auf, er erschrak. Hier sollte er wohnen? Ein alter, kaputter Schrank, eine einfache Tür zum Balkon, durch deren Ritzen der Wind pfiff, und statt der erwarteten Zentralheizung bloß ein qualmender, mit Holz befeuerter Ofen. Am schlimmsten aber das Bett aus Eisen, dessen Matratze nicht einmal einen Bezug hatte. Hier würde er sich keinesfalls niederlegen, lieber die Nacht mit Decke und Fußsack im Sessel verbringen.
Die stattliche Besitzerin erschien, um Kafka zu begrüßen, eine Frau Forberger. Sie hatte seine kurzfristige Anfrage sofort beantwortet und ihr Sanatorium in den schönsten Farben gemalt. Das gab Kafka das Recht, mit klaren Worten darauf hinzuweisen, dass er sich anderes erhofft hatte. Und während sie versuchte, ihren Gast mit überfreundlichen, doch völlig unbestimmten Zusagen zu besänftigen, dachte Kafka bereits darüber nach, wo er am folgenden Tag einen Schlitten herbekäme, um möglichst rasch hier wegzukommen.
Schließlich war es das Dienstmädchen, das den rettenden Einfall hatte. Kafka war allein angereist, aber auch für seine Schwester war ein Zimmer vorbereitet, das er wegen unterbrochener Telefonverbindungen nicht mehr rechtzeitig hatte absagen können. Ein weit besseres, größeres und wärmeres Zimmer, mit Holzbett und neuem Schrank, allerdings ohne den unabdingbaren Balkon. Hier konnte doch Kafka wohnen und für die verordnete Liegekur den Balkon des schlechteren Nebenzimmers nutzen. Und so geschah es. Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass er Glück gehabt hatte. Ottla hatte ihm Glück gebracht, selbst hier.
Er erwachte in einem kleinen Weiler in der Hohen Tatra, mit weit verstreuten Gebäuden, die fast ausschließlich der Beherbergung von {419} Fremden dienten: das einstige, im karpatendeutschen Siedlungsgebiet gelegene Matlarenau, dann ungarisch Matlárháza, jetzt slowakisch Tatranské Matliary, 900 Meter hoch gelegen, von Nadelwäldern umgeben, mit Aussicht auf schneebedeckte Bergrücken und auf die hochalpinen Lomnitzer Spitzen. Erfreut stellte Kafka fest, dass seine ›Villa Tatra‹ windgeschützt auf einer weitläufigen Waldwiese stand, sodass die Sonne freien Zugang
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