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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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im Umgang mit Ämtern und Formularen zugute. Dass über dem Kurort noch immer der Schatten des Krieges lag, muss ihm schon im Augenblick der Ankunft klar geworden sein, als er nach 24-stündiger Reise, inklusive zweier gründlicher Gepäckkontrollen, endlich den Vorplatz des Meraner Bahnhofs betrat. Hier fand er eine Versammlung patriotisch erregter, von alpini und carabinieri nervös beobachteter Tiroler vor, die sich der festlichen Einweihung eines zeitgemäß dimensionierten Denkmals widmeten: im Gedenken an den lokalen Helden und ›Freiheitskämpfer‹ Andreas Hofer und mit einer Emphase, die auf die politische Gegenwart zielte. »Für Gott, Kaiser und Vaterland«, war in den Sockel gemeißelt. Eine Provokation.
    Dass in Meran derzeit nur ein einziges vornehmes Quartier verfügbar war – das Hotel ›Frau Emma‹, ebenfalls am Bahnhof –, hatte Kafka gewiss schon in Prag erkundet. Überraschender war, dass Meran fast eineinhalb Jahre nach Ende des Krieges noch immer von der Ökonomie des Mangels beherrscht wurde, und in so auffälliger Weise, dass man sich zurückversetzt fühlte in das Elendsjahr 1918: Warteschlangen vor den Bäckereien, Lebensmittelkarten und ›fleischlose Tage‹, schmutzige Straßen und ungepflegte Anlagen, geplünderte Kirchen ohne Glocken, zugesperrt das Stadttheater, das {345} Kurmittelhaus und sämtliche öffentlichen Toiletten. Meran war aussichtslos verschuldet, die Stadtverwaltung saß auf einem Stapel wertloser Kriegsanleihen, war völlig der Gnade der Besatzer ausgeliefert und freute sich daher über jeden Gast, der hier ein paar Lire ausgab.
    Auch wenn er so sparsam war wie der Mann aus Prag, der sich im Gästebuch der Frau Emma als ›Beamter‹ eintrug. Doch obwohl Kafka von der schützenden Anonymität des Großhotels sofort angetan war und obwohl er wusste, dass er hier beste Verpflegung erwarten konnte, brachte er es nicht über sich, die Zimmerpreise zu ignorieren und sich wenigstens für ein, zwei Wochen unter die reichen italienischen Gäste zu mischen. Bereits nach dem ersten Frühstück – es war Ostersonntag – begann er, bei Regen und ungewöhnlicher Kälte im Ort umherzuwandern, um nach einer ruhig gelegenen und preiswerten Unterkunft zu suchen. Ein Sanatorium kam keineswegs in Frage, an diesem Entschluss wollte er festhalten, doch Fremdenzimmer gab es genug, willkommen war man überall. Schließlich entdeckte Kafka im Villenort Meran-Untermais (damals noch selbständige Gemeinde) eine von dichtem Baumbewuchs umgebene Pension, er ließ sich herumführen, besichtigte Zimmer und Speiseraum, und da sich die freundliche, korpulente Besitzerin von seinen vegetarischen und sonstigen Wünschen keineswegs abschrecken ließ, sagte er zu. 15 Lire am Tag, das waren viereinhalb tschechische Kronen. Nicht zuviel für einen Sekretär.

    Er saß in einem fast ebenerdigen Zimmer, die Türen weit geöffnet in einen Garten mit riesigen, blühenden Sträuchern. Noch immer war es kalt, am Abend wurde die Pension ›Ottoburg‹ geheizt. Tagsüber jedoch gelangte jeder Sonnenstrahl ungehindert auf den bequemen Balkon, und wenn Kafka still verharrte, näherten sich Vögel und Eidechsen.
    Er genoss es, allein in der Fremde zu sein, und nach den qualvollen familiären Machtkämpfen des vergangenen Jahres war er entschlossener denn je, alles, was an Heimat und aufgezwungene Intimität erinnerte, von sich zu weisen. Ein wenig bereute er es daher, nicht im Hotel geblieben zu sein. In diesen kleinen Pensionen nämlich, schrieb er an Ottla, sei es eigentlich wie in einer »Familiengruft«, um nicht zu sagen in einem »Massengrab«, auch wenn Meran natürlich »unvergleichlich freier, weiter, mannigfaltiger, großartiger, luftreiner, {346} sonnenstärker als Schelesen« sei. [406]   Den Pensionsgästen – insgesamt gab es sechzehn Zimmer – versuchte er zunächst auszuweichen; saßen sie abends im Speisesaal noch beieinander, verschwand er in seinem unmittelbar daneben liegenden Zimmer, ja, in den ersten Tagen bestand er darauf, seine vegetarischen Mahlzeiten an einem kleinen, separaten Tisch einzunehmen. Er wolle ungestört ›fletchern‹, erklärte er der Wirtin, die Verständnis zeigte und die vermutlich schon weitaus grämlichere Hypochonder beherbergt hatte. Den anderen Gästen war der einsame, in seiner Ecke jeden Bissen planvoll durchkauende Mann jedoch weniger behaglich. Ein ehemaliger reichsdeutscher Oberst, der sich am Gemeinschaftstisch zwischen den älteren Damen langweilte,

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