Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
LANDARZT-Erzählungen zu fragen. Dennoch meldete er sich bei Wolff an – offenbar auf Drängen Brods –, und er hielt seine Münchener Pläne aufrecht, bis neuerliche Fieberschübe ihn davon überzeugten, dass er nicht Ferien, sondern eine wirkliche Kur benötigte.
Offenbar hatte auch Wolff Interesse daran, seinen scheuen Autor endlich persönlicher kennenzulernen, denn ohne äußeren Anlass erkundigte er sich nach Kafkas Plänen – was noch niemals geschehen war – und bot ihm praktische Hilfe an. Danach erst erfuhr er von Brod, was es mit Kafkas Krankheit tatsächlich auf sich hatte – und musste nun ehrlicherweise von München abraten. Kafka bemühte sich derweil, eine Unterkunft in den Bayerischen Alpen zu finden, in Partenkirchen, nur zwei Bahnstunden von München entfernt, in einem Ort, der bei »beginnender Tuberkulose« besonders empfohlen wurde. [404] Doch kaum hatte er ein Zimmer reserviert, traf die Nachricht {343} ein, dass aufgrund des allgemeinen Mangels in allen bayerischen Kurorten eine ›Fremdensperre‹ in Kraft getreten war und daher keine Einreisebewilligung erteilt werden könne. Ohne diesen Zettel aber kein Visum für Deutschland. Und damit war nun Kafkas Geduld erschöpft; er beschloss, etwas höchst Ungewöhnliches zu tun: dem Rat seiner Freunde, dem Rat des Arztes zu folgen.
Die offizielle Ernennung zum Sekretär wartete er noch ab. Am 1.April 1920 setzte er sich an den Schreibtisch, um rasch noch einen Brief von ›Minze‹ zu beantworten, von jener landwirtschaftlich interessierten jungen Frau, die er in Schelesen kennengelernt hatte und der er seither – im Ton eines guten Onkels – gelegentliche Ratschläge erteilte. »Morgen fahre ich nach Meran«, schrieb er. »Dass ich allein fahre ist … das Beste daran, allerdings ist hier auch das Beste noch lange nicht gut.« [405] Am folgenden Abend begleitete Ottla ihn zum Nachtzug. Ob auch Julie Wohryzek am Bahnhof war, wissen wir nicht. Es ist wenig wahrscheinlich.
Meran, der landschaftlich wie klimatisch privilegierteste Kurort der östlichen Alpen, hatte schon bessere Tage gesehen. Seit der Eröffnung der Bahnlinie über den Brenner (1868), vor allem aber seit der Jahrhundertwende hatte das österreichische Städtchen eine geradezu explosive Entwicklung des Tourismus erlebt; im letzten Friedensjahr waren ständig mehr Gäste als Einwohner präsent, und die Mehrzahl dieser Gäste – darunter zahlreiche wohlhabende Patienten und Rekonvaleszenten aus Osteuropa – blieb länger als einen Monat. Meran, in einem nach Süden sich öffnenden Bergkessel gelegen, gegen Norden geschützt von kilometerhohen Felswänden, genoss den Ruf eines luxuriösen subtropischen Vorpostens und wurde von Kurswagen aus Paris, Berlin und Wien bedient. In den Lobbys, den kleinen Parks und auf den sorgfältig gepflegten, staubfreien Promenaden war englische, französische und russische Konversation zu vernehmen, den Straßenverkehr beherrschten teuer gemietete Autos und Fiaker, und der Meraner Alltag bot sich den Gästen dar als wohlorganisierte ›Saison‹, als unaufhörliche Folge von Tennisstunden, Ausflügen, Picknicks, Kur- und Militärkonzerten, Unterhaltungsabenden, Gartenfesten und Pferderennen.
Dass das aufstrebende Meran in einer politisch heißen Region lag, war unter diesen Umständen nur allzu leicht zu verdrängen; {344} selbst nach dem Kriegseintritt Italiens, nach der fluchtartigen Abreise nahezu aller Kurgäste glaubte niemand ernstlich daran, dass der Arm der Weltgeschichte bis in die lieblichen Täler Südtirols reichen würde. Im November 1918 aber wurde Meran von italienischen Truppen besetzt, und zwar auf Dauer. Denn diese Mitgewinner des Krieges bestanden darauf, dass der italienische Staat sich künftig durch eine ›strategische‹ Nordgrenze sichern müsse, und das konnte nur die Wasserscheide weit nördlich von Meran sein, eine Linie, die über den Brennerpass führt. Die weit überwiegend deutsche Bevölkerung wurde dabei übergangen, und erst nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain begriffen die Südtiroler, dass sie auf der falschen Seite gestrandet waren: Der italienische Irredentismus hatte seine historische Chance wahrgenommen, Meran blieb unter italienischer Hoheit, hieß jetzt offiziell Merano und lag im Alto Adige (›Hoch-Etsch‹).
Wie es Kafka gelang, eine Einreisebewilligung in diese instabile, von ehemaligen Gegnern besetzte Zone zu erlangen, ist nicht überliefert – vermutlich kam ihm seine Routine
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