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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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quer zur Strömung. Doch, gewiss, er konnte schwimmen.
    Ein schöner Abend, sagte der Mann. – Ano , sagte Kafka. – Aber doch schon etwas kühl. – Ano , antwortete Kafka, der sich anstrengte, was seine Lunge nur hergab. – Sie fahren ja recht flott, sagte der Tscheche. Da konnte Kafka nur noch lächeln. Elegant legte er an der Judeninsel an. Der Herr dankte freundlich, stieg aus und vergaß, ein Trinkgeld zu geben. Dass er sich soeben von einem 37-jährigen promovierten Juristen und Abteilungsleiter hatte rudern lassen, der überdies Tuberkulose hatte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. {414} Kafka aber registrierte voller Stolz die allgemeine Verwunderung, als er mit dem Boot schon nach kürzester Frist wieder an der Sophieninsel festmachte. Dies sei sein »Hauptehrentag« gewesen, schrieb er an Milena. [489]   Ein Sommertag, Anfang August 1920.

    Vier Monate später waren die Straßen Prags bedeckt von rußgrauem Schneematsch. Kafka fühlte sich schwach, fast fortwährend hatte er subfebrile Temperatur, er fröstelte und schwitzte, litt unter Atemnot, und wenn er sich im Freien auf ein Gespräch einließ und allzu viel der kalten Luft einatmete, folgte unweigerlich ein Hustenanfall. Auch in der Nacht ließ ihm der Husten keine Ruhe, manchmal über Stunden. Es musste etwas geschehen, darin waren sich alle einig, die Freunde, die Familie, und allen voran die jüngste Schwester.
    Ottla war jetzt verheiratet und hieß Davidová. Ihren großen, nach Ansicht der Eltern überfälligen Festtag hatte Kafka gar nicht recht in sich aufgenommen, seine Gedanken waren bei einer anderen Frau, immerhin war ihm beim Anblick der Familie David – von deren Angehörigen er etliche zum ersten Mal sah – bewusst geworden, dass an diesem Tag etwas zu Ende ging für ihn , auch wenn Ottla davon nichts hören wollte. Noch aus den Flitterwochen versicherte sie ihm, er habe gar nichts verloren. Doch das schien Kafka ein so oberflächlicher, die Wirklichkeit verleugnender Trost, dass er ihn mit einem lauen Scherz überging. [490]  
    Er tat Unrecht daran. Obwohl es für Ottla gewiss nicht leicht war, sich in die Rolle der Hausfrau, der sie jahrelang ausgewichen war, nun doch zu fügen und obwohl sie schon wenige Wochen nach der Hochzeit die Gewissheit hatte, schwanger zu sein, gingen ihr die Sorgen des Bruders so nahe wie zuvor. Vermutlich erfuhr sie über das Schicksal seiner Verlobten Julie und über die Verwicklungen um Milena mehr und Genaueres als jeder andere Mensch. Und da er nur wenige Treppenabsätze über ihr wohnte, hatte sie täglich vor Augen, wie rasch sich sein gesundheitlicher Zustand mit dem Einbruch der kühlen Witterung verschlechterte. Doch warum unternahm er nichts, wie eigentlich wollte er den nächsten Winter überstehen? Milenas gefährdete Lunge schien ihn mehr zu interessieren als seine eigene, ein kleines Vermögen hatte er ihr angeboten, um ihr zur Gesundung zu verhelfen, ohne zu bedenken, dass er dieses Kapital in den kommenden Monaten wohl ebenso nötig hatte. Bereits {415} Ende August hatte Dr.Kral ihm geraten, eines der spezialisierten Sanatorien in Niederösterreich aufzusuchen, aber die Aussicht, zum ersten Mal im Leben Wochen und Monate unter Kranken zu verbringen, weckte Kafkas äußersten Widerwillen. »Das sind ausschließliche Lungenheilanstalten«, schrieb er unmittelbar nach dem Arztbesuch, »Häuser, die in ihrer Gänze Tag und Nacht husten und fiebern, wo man Fleisch essen muss, wo einem gewesene Henker die Arme auskegeln, wenn man sich gegen Injektionen wehrt, und wo bartstreichende jüdische Ärzte zusehn, hart gegen Jud wie Christ.« [491]   Einen solchen Folterkeller wollte er keineswegs freiwillig aufsuchen, da halfen weder die Beschwörungen der Familie noch die überaus vernünftigen Argumente Brods, der (wahrscheinlich hinter dem Rücken des Patienten) ebenfalls mit Dr.Kral gesprochen hatte.
    Schließlich war es Ottla, die den Knoten durchschlug. Vermutlich hatte sie schon einige Male angekündigt, seine Vorgesetzten zu alarmieren, wenn er sich nicht endlich selbst um Krankenurlaub bemühte, und Kafka, den das schlechte Gewissen gegenüber seiner Behörde plagte, hatte sie gebeten, das nicht zu tun. Doch nun machte sie die Drohung wahr und unternahm einen Bittgang zu Direktor Odstrčil, mit der unmittelbaren Folge, dass Kafka Mitte Oktober eine Vorladung zum Amtsarzt erhielt. Das Ergebnis lautete wie erwartet, auch Dr.Kodym konnte nur wiederholen, was er bereits im Frühjahr

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