Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
hatte zu Balkon und Zimmer, die nach Süden zeigten. Und still war es ringsum, fast leer schien das Haus. Gut, diesen Versuch wollte er jetzt wagen. Er werde vorläufig bleiben, teilte er Frau Forberger mit; etwas Besseres würde man – aber diesen Gedanken behielt er für sich – auch in ein paar Wochen noch finden.
Er ging hinüber ins Hauptgebäude, zum gemeinschaftlichen Frühstück. Neugier auf die Gäste empfand er, und Furcht vor fordernden Begegnungen, die altvertraute Ambivalenz. Die weitaus meisten von ihnen würde er irgendwann abreisen sehen. Aber das konnte er noch nicht wissen.
{420} Fieber und Schnee: Tatranské Matliary
Den Untergang des Helden verstehe ich
– ich meine mit dem Herzen – nicht.
Wittgenstein, TAGEBÜCHER, 1931
›Der Herr, der unter Ihnen wohnt, lässt fragen, ob Sie ihn nicht einmal besuchen möchten.‹ Daran war Kafka nicht sonderlich gelegen. Er kannte den Mann nur flüchtig, hatte einige Worte mit ihm gewechselt, ein etwa 50jähriger, freundlicher Tscheche, von dem auch tagsüber außer Husten und dem gelegentlichen Läuten der Zimmerglocke kaum etwas zu hören war und der hier offenbar niemanden hatte, mit dem er sich verständigen konnte. Die beiden anderen tschechischen Kurgäste, zwei Frauen, hatten kein Interesse an ihm, erst recht nicht die tschechischen Offiziere aus dem noch höher gelegenen Militärspital, die das Sanatorium nur als Herberge und zum Anknüpfen von Liebschaften nutzten. Da konnte man sich einer ausdrücklichen Bitte nur schwer entziehen. Um anzuzeigen, dass er allenfalls zu einem Höflichkeitsbesuch kam, ging Kafka kurz vorm allgemeinen Abendessen hinunter, doch der Tscheche blieb beharrlich und bat ihn, nachher noch einmal wiederzukommen.
Der Mann lag im Bett, wie die meiste Zeit des Tages, denn er litt unter einer fortgeschrittenen Tuberkulose, die bereits auf den Kehlkopf übergegriffen hatte. Das ließ eine umständliche Krankengeschichte erwarten. Kafka hatte schon hinreichend viele Tischgespräche in Sanatorien verfolgt, um zu wissen, wie lästig der natürliche (und moralisch leider unanfechtbare) Egoismus von Kranken werden konnte und wie langweilig das Gerede über neueste Therapien, Wunderheilungen, über die Ärzteschaft und über irgendwelche kranken Verwandten. Überdies war er selbst in einem Zustand, der eine Besinnung auf die Konsequenzen seiner Erkrankung unausweichlich machte. Max Brod, der sich von Kafka diesmal nicht hatte verabschieden können {421} und der ihm die notwendige Salve von Ermahnungen daher brieflich hinterherschickte, beschwor ihn, sich doch endlich als Patienten zu begreifen und die geplanten drei Monate in der Hohen Tatra als »Kriegsdienst« zu absolvieren, als Feldzug gegen die Tuberkulose, im bestmöglichen Sanatorium und mit Hilfe ausgewiesener Spezialisten, ganz gleich, was das koste. Schließlich – hier wiederholte Brod seine Worte von 1917 – schließlich gehe es »um Leben und Tod«. Das sei ihm durchaus bewusst, antwortete Kafka überraschend nüchtern, »ich sehe sogar die Antithese noch schlimmer, es ist nicht Leben oder Tod sondern Leben oder Viertel-Leben, Atmen oder nach Luft schnappend langsam (nicht viel schneller als ein wirkliches Leben dauert) sich zuendefiebern.« [496] Hier sprach nicht mehr der Flaneur von Meran. Er hatte schon einiges zu hören bekommen in Matliary. Aber wie recht er hatte, wusste er selbst noch nicht. Denn erst jetzt sollte er die Tuberkulose auch sehen .
Ja, er sei ziemlich verlassen, bestätigte der gesellige Tscheche, als Kafka nach dem Abendessen erneut an seinem Bett saß. Zwar habe er zwei erwachsene Söhne, doch seine Familie habe schon seit einer Woche nichts mehr von sich hören lassen. Die Geschwüre am Kehlkopf seien vor drei Monaten aufgetreten, er müsse sie selbst regelmäßig behandeln, mit Sonnenlicht. Dazu benötige man – der Kranke demonstrierte es sogleich – zwei Spiegel: einen größeren, um in den eigenen Hals zu sehen, und einen kleineren, um ihn in den Rachen zu schieben und das Licht gebündelt auf das betroffene Gewebe zu lenken. Außerdem habe er eine Zeichnung der Geschwüre angefertigt, um ihre Veränderung zu überwachen. Bitte, hier, schauen Sie sich’s an!
Kafka nahm die Zeichnung und dann den kleinen Spiegel in die Hand. Er hielt ihn weit von sich, wahrscheinlich war Eiter darauf, der Tscheche nahm ja auch beim Husten wenig Rücksicht, Kafka sah die Partikel förmlich durch die Luft fliegen. Plötzlich wurde es eigentümlich
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