Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Arsen-Injektionen (die er ständig mit sich führte) lehnte Kafka selbstverständlich ab, die verordnete Zufuhr an Milch und frischer Sahne reduzierte er um die Hälfte. Strelinger zeigte sich fürsorglich auch gegenüber Schwerkranken, wie Kafka beobachtete, doch er war beseelt von einem heillosen Optimismus, der sich mit seinem ziemlich begrenzten und durch keinerlei Fachlektüre aufgefrischten medizinischen Repertoire nur schlecht vertrug.
Tatsächlich lässt sich den ausführlichen Berichten, die Kafka nach Prag schickte, entnehmen, dass die Sorgen um seine medizinische Betreuung keineswegs unbegründet waren. Ein ganzer Chor von Stimmen forderte ihn auf, sich doch möglichst bald eine geeignetere Unterkunft zu suchen, die Mutter hatte ihren Bruder Siegfried mobilisiert, den Landarzt aus Mähren, und Hermann Kafka erwog sogar eine Zeitlang, selbst nach Matliary zu fahren und einzugreifen. Ein wirkliches, weithin bekanntes Lungensanatorium gab {424} es schon eine Fahrtstunde entfernt im 1000 Meter hoch gelegenen Nový Smokovec (Neu-Schmecks), auch von dort besaß Kafka Prospektmaterial, doch obwohl er immer wieder daran dachte, zu übersiedeln, dauerte es volle drei Monate, ehe er wenigstens zu einer Untersuchung hinfuhr.
Schwer wie immer fiel es ihm, sich zu einer Veränderung äußerer Lebensumstände und -gewohnheiten zu entschließen; diesmal jedoch gab es zusätzliche Hemmnisse, die unüberwindbar blieben. Bereits im Januar 1921 geriet Kafka in eine Krise, die sich vor allem in einer nervenzerreißenden Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen manifestierte. Um seiner Ruhe willen hatte er darauf verzichtet, in das weitaus bequemere, mit Zentralheizung versehene Hauptgebäude umzuziehen – wo allein der soeben eröffnete ›Musiksaal‹ bedrohlich genug war –, doch obwohl die Zimmer neben und über ihm fast ständig unbewohnt waren, wand er sich in seinem Liegestuhl mit Herzbeschwerden und »fast in Krämpfen«: Dazu genügte es, dass irgendjemand unter seinem Balkon ein Liedchen summte, dass im oberen Stockwerk, mehrere Fenster entfernt, die leise, jedoch besonders durchdringende Stimme irgendeines »fremden Teufels« oder das Pfeifen eines Handwerkers ertönte. Der Leidensdruck steigerte sich bisweilen derart, dass Kafka nahe daran war, in ein besseres Sanatorium zu flüchten . Doch ein Moment der Besinnung genügte, um ihm klarzumachen, wie es ihm im vergleichsweise belebten Nový Smokovec ergehen würde, wo ringsum gehustet wurde und wo man auf sämtlichen Balkonen die Durchgangsstraße samt elektrischer Bahn hörte. Was half dagegen der beste Chefarzt? Kafka war nicht traurig darüber, er verzichtete gern. Freilich musste er sich fragen, welchen Teil der Welt – falls seine Nerven sich nicht beruhigten – er künftig überhaupt noch bewohnbar finden würde. » … vorläufig stört mich noch alles«, klagte er Brod, »fast scheint es mir manchmal, dass es das Leben ist, das mich stört; wie könnte mich denn sonst alles stören?« [498]
Die Menschen vor allem. Von Anbeginn war Kafka entschlossen, den typischen Kurgeselligkeiten, zu denen Langeweile und Gewohnheit verführten, aus dem Weg zu gehen. Er fühlte sich wund, die Arbeit der Trauer zehrte ihn auf, und die Furcht vor schmerzlichen Berührungen, vor allem mit Frauen, überwog jetzt seine sozialen Bedürfnisse bei weitem. Wo es unabdingbar war, zeigte er, wie stets, {425} sein verbindlichstes Lächeln, mit Frau Forberger, der Besitzerin, stand er auf bestem Fuß, und das Personal – vor allem in der Küche, wo er zahlreiche Sonderwünsche hatte – hielt er sich gewogen mit gut bemessenen Trinkgeldern. Allein der Speisesaal mit seinen zugewiesenen Plätzen blieb eine offene Flanke, an der man, wie zuletzt in Meran, mit Fatalitäten jederzeit zu rechnen hatte.
Zum Beispiel mit jenem seit dem Krieg offenbar allgegenwärtigen ›unschuldigen‹ Antisemitismus, vertreten diesmal von einem parfümierten, gepuderten, nervösen und geschwätzigen »älteren Fräulein«, einer Tschechin, die eines Abends zielsicher neben Kafka plaziert wurde. Es war zum Verzweifeln, er litt beinahe physisch und hatte nach der ersten Begegnung Mühe, sich in seinem Zimmer zu beruhigen. Immerhin, so fiel ihm ein, blieb die Möglichkeit, die Situation auf rabiat-hinterlistige Weise zu bereinigen: sich als Jude zu bekennen in einem für sie möglichst peinlichen Augenblick, dann würde er sie los sein. Doch weit gefehlt, diese Frau, die scheinbar alles verachtete,
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