Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
still um ihn, er fühlte die Nähe einer Ohnmacht. Mit schon beträchtlicher Anstrengung erhob er sich, wankte auf den Balkon hinaus, setzte sich in der Winterkälte aufs Geländer und verharrte dort eine Weile. Schließlich hatte er sich so weit gefasst, um zu erklären, ihm sei ein wenig übel, und dann ohne weiteren Gruß das Zimmer zu verlassen. Er tastete sich an den Wänden des Korridors entlang, dann die Treppe hinauf, gelangte zu seiner Tür und eilte {422} sofort zum Waschbecken. Er fand wenig Schlaf in dieser Nacht, der Tscheche allerdings gar keinen.
»Was man dort in dem Bett sieht, ist ja viel schlimmer als eine Hinrichtung ja selbst als eine Folterung. Die Folterungen haben wir ja nicht selbst erfunden, sondern den Krankheiten abgeschaut, aber so wie sie wagt doch kein Mensch zu foltern, hier wird jahrelang gefoltert mit Kunstpausen damit es nicht zu schnell geht und – das Besonderste – der Gefolterte wird selbst gezwungen, aus eigenem Willen, aus seinem armen Innern heraus, die Folterung in die Länge zu ziehn. Dieses ganze elende Leben im Bett, das Fiebern, die Atemnot, das Medicineinnehmen, das quälende und gefährliche (er kann sich durch eine kleine Ungeschicklichkeit leicht verbrennen) Spiegeln hat keinen andern Zweck als durch Verlangsamung des Wachsens der Geschwüre, an denen er schliesslich ersticken muss, eben dieses elende Leben, das Fiebern u.s.w. möglichst lange fortsetzen zu können. Und die Verwandten und die Ärzte und die Besucher haben sich förmlich über diesem nicht brennenden, aber langsam glühenden Scheiterhaufen Gerüste gebaut, um ohne Gefahr der Ansteckung den Gefolterten besuchen, abkühlen, trösten, zu weiterem Elend aufmuntern zu können.« [497]
Man fühlt, das Erlebnis liegt nur wenige Stunden zurück, Kafka steht unter Schock, und was ihn vor allem erregt, ist die Wehrlosigkeit des Opfers, dem der eigene Überlebenswille zum Verhängnis wird. Er übersieht dabei, dass die Krankheit trotz allem eine Hintertür lässt, die sie von Folter grundsätzlich unterscheidet. Der tschechische Patient wusste diesen Ausgang zu nutzen: Von derartigen Besuchen – Kafka konnte sich nur noch wenige Male überwinden –, erst recht aber von »Aufmunterung zu weiterem Elend«, die ihm hier außer dem Arzt, der Krankenschwester und dem Stubenmädchen ohnehin niemand zuteil werden ließ, hatte er nach weiteren zwei Monaten genug. An Ostern bestieg er den Schnellzug nach Prag und ließ sich in rasender Fahrt zwischen die Puffer zweier Waggons fallen.
Es war Dr.Kral gewesen, der Kafka empfohlen hatte, in die Hohe Tatra zu reisen, vor allem wegen der starken Höhensonne: Bei ruhigem Wetter kommt es in dieser Region der Karpaten häufig zu einer inversen Wärmeschichtung, mit kalten, wolkenverhangenen Tälern und völlig klarem Himmel über den besiedelten Anhöhen. Überdies gab es hier eine Reihe von Luftkurorten auch für anspruchsvollere Gäste; sowohl der Komfort als auch die hygienischen Verhältnisse {423} lagen deutlich über dem Standard der übrigen Slowakei. Denn vor dem Krieg war die Hohe Tatra eine beliebte Sommerfrische der Budapester gewesen, nach und nach hatte man die wichtigsten Kurorte durch elektrische Bahnen und befestigte Straßen erschlossen, und nach dem Krieg wurde diese Infrastruktur vom aufkommenden Wintersport-Tourismus genutzt und daher auch erhalten.
Natürlich war es aber ein ausgesprochenes Lungensanatorium gewesen, das Dr.Kral im Sinn hatte, mit strenger ärztlicher Überwachung und angepassten Diäten, und davon konnte in Matliary keine Rede sein. Vermutlich hatte Kafka diese Unterkunft wegen des niedrigeren Preises, der Aussicht auf vegetarische Küche und wegen der ausdrücklich zugesagten Möglichkeit der Gartenarbeit gewählt. Aufgenommen wurde hier aber jeder, auch Skifahrer und Jäger, die Speisen erhielt man nach Wunsch (berechnet wurde nur, was man verzehrte), und wer ärztliche und pflegerische Betreuung brauchte – im Winter etwa dreißig Dauergäste –, musste mit dem dafür zuständigen Personal eine private Vereinbarung treffen. Insbesondere mit dem einzigen hier verfügbaren Arzt Dr.Leopold Strelinger: ein verheirateter, sehr umgänglicher Jude mittleren Alters, der ebenfalls in der Villa Tatra wohnte, nur drei Türen von Kafka entfernt. Mit diesem angeblichen Lungenspezialisten verabredete er eine allmorgendliche Visite, behielt sich aber vor, selbst zu entscheiden, welchen Ratschlägen er folgte. Die von Strelinger empfohlenen
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