Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Legitimität war. Niemand außerhalb dieses Gebäudes, ja nicht einmal alle Kollegen in den Zimmern nebenan hätten genau erklären können, was hier eigentlich seine Aufgabe war. Zu hoch der Grad der Abstraktion, zu vermittelt die Beziehung zum Klienten, der meist nur als versicherungsrechtlich oder statistisch relevanter Fall interessierte.
Kafkas Neugier auf Menschen, sein aufmerksames Beobachten fremder Schicksale und Lebenskämpfe fand in diesem Beruf nur selten sein Ziel – gewöhnlich waren es Aktenstapel, welche die Sicht verstellten. Jene Neugier aber nahm im Lauf der Jahre zu: Hatte er sie früher durch exzessive Lektüre von Biographien und autobiographischen Dokumenten gestillt – und keineswegs nur von Schriftstellern, mit deren Schicksal er sich identifizieren konnte –, so richtete er sie nun mehr und mehr auf die Menschen seiner Umgebung. Und je älter er wurde, desto gespannter verfolgte er die Schicksale jüngerer Zeitgenossen, denen andere und unvergleichlich attraktivere Optionen offenstanden als ihm selbst. Wann und von wem wurden auf diesen Lebenslinien die Weichen gestellt? Durfte man Einfluss nehmen, gar eingreifen? Das gehörte – wie sein Interesse an der Reformpädagogik belegt – zu den wenigen sozialen Fragen, die ihn auch theoretisch beschäftigten. Vor allem in seinem sozialen Handeln jedoch setzte sich ein unverkennbarer pädagogischer Impuls immer stärker durch.
Das Schnittmuster lieferten die Beziehungen zu den Schwestern, insbesondere zu Ottla. Hatte er sich zunächst darauf beschränkt, ihr durch Vorlesen und improvisierte kleine Vorträge Zugang zu allgemeinen Bildungsgütern zu verschaffen, so wurde ihm allmählich bewusst, dass die Befriedigung, die beiden daraus erwuchs, keineswegs aus der bloßen Vermittlung von Wissen stammte. Gewiss war {428} Kafka stolz, wenn Ottla mit einem passenden Platon-Zitat aufwarten konnte. Viel bedeutsamer aber war, dass sie Lust an der Erkenntnis gewann, eine zunehmende Fähigkeit zur reflektierten Wahrnehmung, ein zunehmendes Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Position in der Welt. Diesen Reifungsprozess aber konnte man nicht steuern, allenfalls initiieren, und er führte zu Ergebnissen, die unvorhersehbar waren. Das Beste, was man tun konnte, war, die Interessen, die Fähigkeiten und Grenzen des anderen zu respektieren und ihn am Ende sich selbst, das heißt den eigenen Kräften zu überlassen. Kafka stieß auf das Paradox, dass der Lehrende sich dem Lernenden in gewissem Sinn sogar unterzuordnen hat: Denn bereit zu sein, etwas Fremdes aufzunehmen und hinzunehmen , ist eine Eigenschaft, die man nicht wecken kann, ohne sie selbst zu besitzen. Hier gibt es für jeden Lehrer noch etwas zu lernen, und Kafka scheute nicht einmal vor der Konsequenz zurück, dass in der Beziehung etwa zu den ostjüdischen Kindern – in der Prager Flüchtlingsschule oder im Berliner Volksheim – die Lehrer diejenigen waren, die den größeren Gewinn davontrugen.
Diese pädagogische Befähigung, das Potenzial eines anderen Menschen aufzuspüren, zu spiegeln und dadurch erst zu entfalten, hat immer wieder Jüngere an Kafka gefesselt. Gustav Janouch und Hans Klaus begegneten der alles andere als schulmäßigen und dennoch subtil bezwingenden Autorität Kafkas geradezu mit Verehrung. Die knapp zwanzigjährige, an Landwirtschaft interessierte Minze Eisner, die Kafka in Schelesen kennengelernt hatte, empfand den sporadischen Briefwechsel mit ihm als derart bedeutsam, dass sie noch jahrelang daran festhielt und Kafka immer wieder um Rat fragte (wohl wissend, dass er stets zur Arbeit und niemals zur Entspannung riet). Ähnliche Beziehungen, die wiederum kleine Korrespondenzen nach sich zogen, ergaben sich in Matliary. Auch das Bildungsgefälle zwischen Kafka und Julie Wohryzek brachte ihn gewiss mehr als einmal in Versuchung, sommerliche Bootsausflüge durch ein wenig Unterricht zu würzen, und selbst in den Korrespondenzen mit Felice und Milena finden sich immer wieder Spuren einer Lehrer-Schüler-Rhetorik, ohne dass Kafka seinen Vorsprung an Wissen und Erfahrung je ausdrücklich reklamiert hätte.
Sein pädagogisches Meisterstück aber vollbrachte er in der Freundschaft mit Robert Klopstock, der, ohne sich dessen recht bewusst {429} zu sein, binnen weniger Tage zu seinem Famulus wurde. »Kafkas Wesen«, erinnerte er sich Jahrzehnte später, »war so umfassend, überwältigend und doch so ohne Gewalt und Gewicht, daß [ich] keine Fragen einer
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