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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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was nicht tschechisch war, wandte sich ausgerechnet ihrem jüdischen Nachbarn mit besonderer Freundlichkeit zu. Und als sich herausstellte, dass sie schwer krank war und immer wieder tagelang fiebernd im Bett bleiben musste, entspannte sich die Lage vollends: Die Solidarität der Infizierten – die Kafka in Matliary zum ersten Mal verspürte – wischte alle Differenzen aus, ja, weckte sogar den Wunsch, etwas gutzumachen. Was hatte denn dieses schwächliche Fräulein mit dem vitalen antijüdischen Hass zu tun, in dem er noch vor wenigen Wochen in Prag »gebadet« hatte? Noch wusste Kafka zu unterscheiden, woher seine Empfindlichkeiten rührten.
    Ein Abgesandter aus einer ganz anderen Welt saß den beiden gerade gegenüber: Arthur Szinay, ein 25-jähriger magenkranker Mann aus dem ostslowakischen Kaschau (dass er auch lungenkrank war, wusste er noch nicht), ein Jude, der im Weltbild des Fräuleins gewiss einen der letzten Ränge einnahm, doch »ein Junge zum Verlieben«, wie Kafka fand.
»Entzückend im ostjüdischen Sinn. Voll Ironie, Unruhe, Laune, Sicherheit aber auch Bedürftigkeit. Alles ist ihm ›interessant, interessant‹ aber das bedeutet nicht das Gewöhnliche sondern etwa ›es brennt, es brennt‹. Ist Socialist, bringt aber aus seiner Kindererinnerung viel Hebräisches herauf, hat Talmud und Schulchan Aruch studiert. ›Interessant, interessant‹«. [499]  
{426}
    Ein ›heißer Jude‹ also, ein Typus, wie er Kafka bereits unter ostjüdischen Schauspielern und besonders in Gestalt des unvergessenen Jizchak Löwy begegnet war. Wie sich herausstellte, lief Szinay zu allen nur erdenklichen öffentlichen Vorträgen und Versammlungen, geradezu mit Andacht erinnerte er sich an einen Auftritt Max Brods in seiner Heimatstadt, und selbst dem (zeitweilig) ultraorthodoxen Georg Langer war er schon begegnet. Und nun also hatte er das Glück, mit einem guten Freund dieser Berühmtheiten am Tisch zu sitzen. Szinay war begeistert, fast hatte Kafka Mühe, sich seiner Zuneigung zu erwehren.
    Dabei war die Verständigung durchaus beschwerlich. Denn Szinays Muttersprache war Ungarisch, erst in Matliary hatte er begonnen, Deutsch zu lernen, Tschechisch und Slowakisch beherrschte er überhaupt nicht. So fand er alles, was Kafka ihm zu sagen hatte, geradezu »wunderschön«, musste jedoch einräumen, »nicht die Hälfte davon« tatsächlich zu verstehen. Immerhin hatte er den Eindruck, noch nie habe ihm jemand derart konzentriert und verständnisvoll zugehört, auch dann, wenn es nur um die elende Geschichte seines Magens ging.
    Ungarisch war die wichtigste Verkehrssprache in der kleinen, internationalen Gesellschaft, die sich im Sanatorium von Matliary zusammengefunden hatte, auch das Personal sprach Ungarisch, sodass der überaus gesellige Szinay keineswegs zu vereinsamen drohte. Verschwand Kafka in seinem Zimmer oder wollte unmissverständlich seine Ruhe, dann hielt er sich an einen jungen Mediziner aus Budapest, der beinahe ebenso ›interessant‹ und gebildet war. Sie beide, sagte Szinay immer wieder, Sie beide müssen sich unbedingt kennenlernen. Wieso denn, fragte Kafka. Wieso denn, fragte ebenso misstrauisch der Mediziner, dem an unverbindlichem Gerede wenig gelegen war. »Weil ich ihn nicht verstehe und Sie nicht verstehe. Ich bin sicher, dass Sie sich verstehen werden.« Doch trotz dieses schlagenden Arguments dauerte es noch einige Zeit, ehe die von Szinay so nachdrücklich angeregte Verbindung zustande kam.
    Es geschah auf der Landstraße. Kafka ging spazieren – man musste auf der Straße gehen, noch waren die Waldwege vom Schnee versperrt –, als ihm der von Ferne bekannte Budapester entgegenkam. Er hatte ein deutsches Buch unter dem Arm, Kafka schaute neugierig hin, grüßte und konnte es sich nicht versagen, eine Bemerkung über {427} das Lesen zu machen. »Sind Sie Herr Kafka aus Prag?«, entgegnete der junge Mann. »Herr Szinay spricht fast jeden Tag über Sie.« Und er nannte seinen Namen: Robert Klopstock, Medizinstudent. [500]  

    Es fällt nicht leicht, einen Beruf zu ersinnen, der Kafkas eigentümlicher Kombination von sozialen Fähigkeiten und Hemmungen wirklich gerecht geworden wäre. Gewiss, kein Vorgesetzter hatte je Zweifel daran geäußert, dass Kafka in seiner Behörde am rechten Ort war: Gewissenhaftigkeit, sprachliche Genauigkeit, Verhandlungsgeschick – das Vorbild eines Beamten. Ihm selbst hingegen schien, dass die Versicherungsanstalt ein Schattenreich von zweifelhafter

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