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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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selbst wenn es nicht wirklich vergehen konnte, in einer unzugänglichen Kammer zu verwahren und die Schlüssel wegzuwerfen. Wenn Milena in Prag auftauche, schrieb er an Brod, oder womöglich gar dem Drängen ihres Vaters nachgebe, zur Kur in die Tatra zu reisen, dann wünsche er sofortige Benachrichtigung, um irgendwelche Überraschungen von vornherein zu unterbinden. [507]  
    Er hatte der Wirklichkeit den Rücken zugekehrt. Und seit er fast ohnmächtig aus dem Zimmer seines schwerkranken Nachbarn geschlichen war, wusste er, dass es auch gute Gründe gab, sich davonzumachen. Wahrscheinlich ist, dass Kafkas Regression nicht nur Erholung war von den seelischen Strapazen des Jahres 1920, das sich wie ein riesiger Wirbel allein um Milena gedreht hatte; es {433} war auch die neue, allzu konkrete Gestalt der Krankheit, der er auszuweichen suchte und vor der er in Dämmerzustände floh, die manchmal tagelang anhielten. Er fühle sich, als lebe er außerhalb der Welt, bekannte er Brod. Dass er gar nicht darauf aus war, zurückzukehren, musste man allerdings zwischen den Zeilen lesen, und Konkretes über seine Krankheit zu berichten vermied er lange, trotz aller Vorhaltungen.
    Vermutlich war Brod über Monate der einzige, der diese Strategie der Verdrängung missbilligte; alle anderen, vor allem die Eltern, ließen sich durch ›Kurerfolge‹ nur allzu gern beeindrucken. Solange Kafka berichten konnte, dass er ordentlich zunahm, waren skeptische Nachfragen kaum zu fürchten. Acht Pfund im ersten Monat, das konnte sich hören lassen, und er gab sich Mühe, auch weiterhin mit beeindruckenden Zahlen aufzuwarten. Trotz quälender Appetitlosigkeit und obwohl ihm die Küche von Matliary sehr bald eintönig wurde, räumte er seine Teller leer und überwand sich sogar dazu, Fleisch zu essen. Erst im März, als das Ende des Krankenurlaubs unmittelbar bevorstand, musste er einräumen, dass die Symptome der Tuberkulose noch keineswegs auf dem Rückzug waren und dass er inmitten tagelanger Stürme sogar schon Zustände verzweifelter Atemnot erlebt hatte. Dr.Strelinger schien der Befund leicht gebessert – er verließ sich allerdings auf das Abhören der Lunge und veranlasste keine Untersuchung des Sputums –, dennoch riet er dringend dazu, die Kur fortzusetzen, ja er drohte sogar mit einem schweren Rückfall, sollte Kafka bereits im März wieder ins Büro gehen. Das überzeugte schließlich auch den widerspenstigen Patienten, der die Vorhaltungen aus der Arbeiter-Unfallversicherung mehr zu fürchten schien als die Krankheit, dem nun aber doch unheimlich wurde: Buchstäblich im letztmöglichen Moment setzte Kafka einen Hilferuf nach Prag ab, der Ottla dazu veranlasste, sofort den Direktor aufzusuchen. Und wieder hatte Kafka Glück: Obwohl er zunächst noch nicht einmal ein Attest aus Matliary vorlegen konnte und obwohl er ›vergaß‹, sich einer amtsärztlichen Untersuchung in Prag zu stellen, genehmigte Odstrčil eine Verlängerung des Urlaubs um zwei Monate, später sogar um ein weiteres Vierteljahr bis August, bei vollem Gehalt. Das ließ sich mit dem diplomatischen Geschick Ottlas allein nicht mehr erklären – da liege der Verdacht doch ziemlich nahe, fand Kafka, dass er sich in den immer länger werdenden Zeiten der Abwesenheit als entbehrlich {434} erwiesen habe, auch wenn der Direktor sich als unbegreiflich gut, ja als rettender Engel zeige.
    Eine erste große Erleichterung verspürte Kafka, als die Winterstürme sich legten und in der Hohen Tatra endlich der Frühling einzog. Bereits im April konnte er melden, dass er nahezu fieberfrei war und dass auch Husten und Atemnot zurückgegangen waren. Freilich war dieser Erfolg überschattet von einer ganzen Serie von Malaisen, die ihn für Tage immer wieder ins Bett nötigten: Erkältungen, schmerzhafte Abszesse, ein schwerer Darmkatarrh mit Fieberschüben, die ihn an das Ende denken ließen. Er hatte das Gefühl, physisch aus den Fugen zu gehen, und blickte er zurück auf die Zeiten von Zürau und Meran, so musste er sich sagen, dass er sich auf einer absteigenden Linie befand, dass körperliche Leiden seine Existenz noch niemals so beherrscht hatten wie jetzt. Selbst der »objektive Lungenbefund«, mit dem ihn Brod immer wieder zu trösten versuchte und den er für das allein Wesentliche hielt, verblasste hinter der Evidenz des Niedergangs. Immer sporadischer wurden jetzt die Auskünfte, die Kafka nach Prag schickte, und auch sein über Monate erkämpftes maximales

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