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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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gute oder böse Mächte die da wirken, ungeheuerlich stark sind sie jedenfalls. Im Mittelalter hätte man ihn für besessen gehalten. Dabei ist er ein junger Mensch von 21 Jahren gross breit stark, rotbackig – äusserst klug, wahr selbstlos, zartfühlend.« Offenbar war es eine Art {431} jungenhafter Selbstvergessenheit, die Kafkas starke Anteilnahme und bald auch freundschaftliche Gefühle weckte: »geradezu schön« fand er Klopstock, wenn dieser, mit ernstem Gesicht, halb anwesend, halb in Tagträumen, im Schlafhemd und »mit zerrauftem Haar« das Bett hütete. Schon nach etwa zwei Wochen musste Ottla ein Bücherpaket für Klopstock schnüren – Bücher aus Kafkas privatem Besitz, eine seltene Ehre. [505]  
    Es muss Klopstock tief beeindruckt haben, dass man mit ein und demselben Menschen lange und ernsthafte Gespräche über Zionismus, Christentum, Dostojewski und die Liebe führen, ebenso jedoch auch Späße machen und Streiche aushecken konnte. So amüsierten sie sich gemeinsam über einen tschechischen Gast, einen ranghohen Offizier, der zu regelmäßigen Stunden Flöte spielend in seinem Zimmer saß, häufig jedoch auch zeichnend und malend im Freien zu beobachten war. Dieser Einzelgänger namens Holub verfiel eines Tages auf die Idee, seine Werke in Matliary auszustellen, mehr oder minder dilettantische Arbeiten, die in einem Sanatorium in der Hohen Tatra natürlich ein Ereignis waren, auf irgendeine Resonanz unter gesunden Kunstverständigen aber nicht hoffen durften. Was würde der Mann wohl sagen, kam es Kafka und Klopstock in den Sinn, wenn er seinen Namen entgegen jeder Erwartung gedruckt sehen würde? Gesagt, getan. Kafka verfasste eine kleine, anonyme, in unverbindlichem Lob sich ergehende Besprechung für die deutsche Karpathen-Post , Klopstock etwas Ähnliches für eine ungarische Zeitung. Und dieser Spaß zündete auf eine ganz unvorhersehbare Weise. Denn Holub, der die ungarische Kritik nicht lesen konnte, lief damit zu einem aus Budapest stammenden Kellner, dieser wiederum führte ihn ahnungslos zu Klopstock: Der sei gebildet und werde es sicherlich am besten übersetzen. Zufälligerweise verbrachte jedoch Klopstock diesen Tag mit leichtem Fieber im Bett, und Kafka saß bei ihm, als der Generalstabshauptmann Holub mit dem ungarischen Blatt ins Zimmer trat. Man kann sich die Szene, die nun folgte, ausmalen: Den halben Nachmittag habe er »mit Lachen verbracht«, schrieb Kafka der Schwester. Und da diese Posse so gut gelungen war, dachte er sich sogleich die Nächste aus: Er legte Ottla einen Artikel der Brünner Tageszeitung Lidové Noviny bei, in dem unter Berufung auf deutsche Autoritäten gemeldet wurde, die Einsteinsche Relativitätstheorie ermögliche eine völlig neue Therapie der Tuberkulose. Doch obwohl er {432} keineswegs verschwieg, dass er diesen Unfug zunächst selbst geglaubt hatte – es war die Ausgabe vom 1.April –, geriet die ganze Familie in hoffnungsvolle Erregung, so dass Kafka schließlich die Notbremse ziehen musste: »Beim Hereinfall in Aprilscherze seid Ihr wirklich sehr hartnäckig«. [506]  
    Wohltätige Regression war das, nichts anderes, die Freuden der Einfalt und der Verantwortungslosigkeit, die Kafka längst als vorzügliches Kurmittel kannte. Im Sanatorium Jungborn, vor beinahe einem Jahrzehnt, hatte er noch als Beobachter teilgenommen; in Schelesen war er hin und wieder selbstvergessen, ja sogar ein wenig albern gewesen; in Matliary aber ließ er sich gehen, überließ sich Erinnerungen, Tagträumen und zeitweilig auch den harmlosen Umtrieben der Kurgäste, die ihn allesamt nett fanden. Kafka tat hier so gut wie nichts, für längere Streifzüge fehlte ihm die Kraft, er las wenig – am gründlichsten wohl noch die Selbstwehr und Die Fackel –, Briefe beendete er oft erst nach Tagen, die literarische Arbeit hatte er eingestellt, und wenn er nicht mit Klopstock umherging, dann lag er im Liegestuhl auf seinem Balkon, die Milchflasche stets in Reichweite, schaute stundenlang den Wolken nach oder döste ein wenig auf einer stillen, verborgenen Waldwiese. Er ließ die Zeit verstreichen, beinahe wunschlos. Und er verteidigte diesen Schonraum, stellte Posten auf selbst gegen Störungen aus der Ferne. ›Nicht mehr schreiben‹, las Milena Pollak bereits Anfang Januar in einem Brief, den sie aus Matliary erhielt, ›nicht mehr schreiben und verhindern, dass wir einander jemals sehn.‹ Und das war keine bloße Bitte mehr, Kafka war entschlossen, das Vergangene,

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