Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
äußeren Berechtigung oder Bestätigung seines Wesens stellte.« [501] Dabei wusste er offenbar über Wochen gar nicht, mit wem er es zu tun hatte. Dieser Doktor Kafka hatte sich allen als gewöhnlicher Versicherungsbeamter vorgestellt, und seine neuen Freunde gerieten daher in helle Aufregung, als sie erfuhren, dass der prominente Max Brod um seinetwillen einen Besuch in Matliary plante. Dass Kafka selbst Schriftsteller war, ahnte zunächst weder der beflissene Szinay noch der belesene Klopstock. Doch auf Dauer war das natürlich nicht zu verheimlichen; einer leider unüberprüfbaren Anekdote zufolge erwiderte Kafka auf die Frage, ob er etwa identisch sei mit dem Autor des LANDARZTES, nur drei geflüsterte Worte: »Auch das noch!« [502]
Klopstock war ein zerrissener, melancholischer Charakter, der heftigen psychischen Schwankungen ausgesetzt blieb und dessen widersprüchliche Erscheinung zeitlebens irritierte. Er war 1899 in der ungarischen Kleinstadt Dombóvár geboren, südlich des Plattensees, wo sein jüdischer Vater einen Posten als ›kgl. ungarischer Staatsbahnoberingenieur‹ innehatte. Nach dem frühen Tod Adolf Klopstocks zog seine Frau Gizella (geborene Spitz) mit den beiden Söhnen Robert (›Robi‹) und Hugo Georg nach Budapest. Über die Zeit, die Robert ab 1912 am Humanistischen Gymnasium verbrachte, ist nur wenig bekannt; doch beherrschte er bereits als 17-Jähriger die deutsche Sprache so gut, dass er klassische Dichtung lesen und Freunden auch vorlesen konnte. Offenbar verkehrte er schon damals mit ungarischen Literaten, war jedoch – wie die zahlreichen Bestnoten in seinem Maturazeugnis belegen – ebenso naturwissenschaftlich begabt. Dass er Medizin als Studienfach wählte, hatte wohl nicht zuletzt ethische Gründe: Obwohl er von Rabbinern religiös unterwiesen wurde, entwickelte Klopstock eine ausgeprägte Neigung zu christlichen Lebensidealen, und gegenüber Kafka, dem er als »menschenbedürftig in der Art eines geborenen Arztes« erschien, nannte er Jesus als persönliches Vorbild. [503]
Offenbar wurde er durch seine Kriegserlebnisse darin sogar noch bestärkt. Noch während des ersten Medizinsemesters ereilte ihn die Einberufung zum Militär, er diente in einem Sanitätskorps, wurde {430} an die Ostfront und nach Italien geschickt – was in Klopstocks Biographie ein eigentümlicher weißer Fleck blieb, denn über das Grauen, das er hier im Alter von nur 18 Jahren erfahren haben muss, sind keinerlei Erinnerungen überliefert. Dass er sich beim Dienst in den Sanitätsbaracken mit Tuberkulose infiziert hatte, wurde wohl erst nach Kriegsende festgestellt; im Herbst 1920 brach er sein Medizinstudium vorläufig ab, er verbrachte insgesamt Jahre in Sanatorien, kehrte auch noch mehrmals in die Hohe Tatra zurück, ehe er als geheilt gelten konnte.
Kafka wiederholte in Matliary ein vielfach erprobtes Verhaltensmuster: Den jeweils vertrautesten Menschen machte er zum Mittler und Boten, der den Anprall der übrigen sozialen Welt abdämpfte. Diese Position übernahm Klopstock sofort und bereitwillig. »Ich verkehre eigentlich nur mit dem Mediciner«, meldete Kafka nach Prag, »alles andere ist nur nebenbei, will jemand etwas von mir sagt er es dem Mediciner, will ich etwas von jemandem, sage ich es ihm auch.« [504] Das steht in scheinbarem Widerspruch zu den erhaltenen Gruppenaufnahmen, auf denen Kafka, entspannt und beinahe jugendlich, in einem offenbar vertrauten Kreis von Mitpatienten zu sehen ist. Tatsächlich aber nutzte er die Beziehung zu Klopstock, um seine sozialen Kontakte zu bündeln; er ließ sich seine Mahlzeiten jetzt aufs Zimmer bringen, ohne fürchten zu müssen, in Isolation zu geraten, und auch kleine pflegerische Handreichungen erledigte fortan ›der Mediciner‹. Im Gegenzug gewann Klopstock einen Berater, der – jetzt verstand er die Begeisterung des magenkranken Szinay – intensiv zuzuhören verstand und der sich von sozialen Ungeschicklichkeiten und unverständlichen Launen nicht im mindesten beeindrucken ließ. Offenbar spiegelten sich die emotionalen Schwankungen Klopstocks – der sich seit langem mit einer aussichtslosen Liebe quälte – sehr unmittelbar in seinen Gesichtszügen, er wirkte oft verdrießlich (die überlieferten Fotos belegen es) und machte sich damit gewiss nicht nur Freunde, doch Kafka war fasziniert: »Ein solches dämonisches Schauspiel«, schrieb er an Ottla, »habe ich in der Nähe noch nicht gesehn. Man weiss nicht, sind es
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