Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
nicht mehr festzustellen – vielleicht war es Elli empfohlen worden, als sie im Jahr zuvor im dreißig Kilometer westlich gelegenen Brunshaupten Ferien machte, vielleicht hat sie den Ort bei dieser Gelegenheit auch besichtigt. Oder jemand aus der Familie war auf das Inserat der Pension ›Glückauf‹ gestoßen, wobei dann Kafka die »kleinen {543} Tische«, an denen hier serviert wurde, besonders angenehm auffielen. Entscheidend war wohl ein landschaftlicher Vorzug von Müritz, den die einschlägigen Reiseführer bestätigten und der auch geeignet war, den Hausarzt zu beruhigen: Müritz war Badeort und Luftkurort zugleich. Denn es liegt am Rand der ›Rostocker Heide‹, eines riesigen Waldgebiets, das bis nahe an die Stranddünen reicht. Dieser Gegensatz zweier Welten auf engstem Raum bot Kafka eine beinahe ideale Konstellation: Hochsaison am Strand, mit gemütlichen Strandkörben, mit Fußball spielenden Männern, schwatzenden Müttern und umhertobenden Kindern; und knapp daneben der Saum eines alten Mischwalds, in dem man schon nach wenigen Hundert Metern von völliger Stille umgeben war und der, je tiefer man eindrang, immer wilder und mannigfaltiger wurde. Ganz zu Recht wurde das Seebad daher ausdrücklich für Rekonvaleszente empfohlen, und es gab die ersten professionell geführten Erholungsheime.
Die meisten Pensionen und Hotels waren unmittelbar am Wald gelegen, villenartige Gebäude in der für die Jahrhundertwende typischen Bäderarchitektur, mit zahlreichen geschützten, teilweise wie Wintergärten umbauten Balkonen und Veranden. Ein solches Zimmer im zweiten Stock hatte auch Kafka, abgewandt von der Straße, mit Blick in den kleinen Garten und den nur wenige Schritte entfernten Wald. Auch sein täglicher Weg zum Strand (der damalige Badeweg, heute Franz-Kafka-Weg) verlief unter dem Laubdach von Eichen und Buchen, erst an der Dünenpromenade trat man ins Freie und befand sich unversehens unter Scharen lustwandelnder Sommerfrischler. Dahinter lagen ›Damenbad‹, ›Herrenbad‹ und ›Familienbad‹, wo das Strandleben (damals noch abhängig von Umkleidekabinen) natürlich am buntesten war. Hier mietete Kafka einen Strandkorb, vor dem, aus Tannenzapfen geformt, die Initialen F. K. ausgelegt wurden – eine Arbeit, für die wahrscheinlich die zehnjährige Gerti und der elfjährige Felix zuständig waren.
Und dann wartete in Müritz noch eine Überraschung. Öffnete Kafka seine Balkontür, so hörte er vor allem die Stimmen von Kindern, ungewöhnlich vieler Kinder. Das weckte ungute Erinnerungen an die unter seinen Fenstern umhertobende Schar in Planá, die ihn schier hatte verzweifeln lassen. Doch die Geräusche waren hier ganz andere. Es wurde gesungen, offenbar übte man gemeinsame Lieder, auch erwachsene Betreuerinnen waren zu vernehmen, in zwei oder {544} drei Sprachen. Durch die Blätter der umstehenden Bäume hindurch konnte Kafka die Gruppe erkennen, die in einem etwa fünfzig Meter entfernten, fast schon im Wald stehenden Gebäude wohnte. Sehr bald muss ihm klar geworden sein, dass es keineswegs deutsches Volksgut war, das er zu hören bekam. Das waren jiddische Lieder, unverkennbar, und es war der Singsang der Chassidim.
Dass Kafka, der noch am Tag vor seiner Ankunft beinahe eine Kolonie ostjüdischer Kinder besucht hätte, in Müritz ausgerechnet neben einer Ferienstätte des Berliner Jüdischen Volksheims Quartier bezog, war eine so unwahrscheinliche Fügung, dass er sie nicht nur als Wink, vielmehr geradewegs als Aufforderung des Schicksals betrachtet haben muss. Es hatte eine Zeit gegeben, da ihn das Heim in Berlin weit mehr interessierte als das gesamte Kulturprogramm Prags, er hatte Felice Bauer zur ehrenamtlichen Mitarbeit gedrängt, er hatte gespendet, doch mit eigenen Augen gesehen hatte er diesen Ort der Träume nie. In den sieben Jahren, die seither vergangen waren, hatte sich freilich vieles verändert, und die Zeiten waren längst vorüber, da man den staunenden polnischen Flüchtlingskindern Gedichte von Werfel vortrug, um sie mit den Gipfelpunkten westlicher Kultur bekannt zu machen. Inzwischen hatte der Zionismus auch im Berliner Scheunenviertel zahlreiche junge Anhänger gefunden, und das Volksheim stand unter der Regie des Jung-Jüdischen Wanderbunds, der die Kinder nicht zu gebildeten Arbeitern und Händlern, sondern zu Pionieren für Palästina erziehen wollte. Alles wurde dem jüdischen Gemeinschaftsgefühl untergeordnet, und das gemeinsame Feiern und Singen war
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