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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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keineswegs nur Vergnügen, sondern diente vor allem dazu, die Grenzen zwischen den verschiedenen Muttersprachen und Milieus zu überwinden. Man nannte sich gegenseitig Chawerim (Genossen), als sei man schon im Kibbuz. Und natürlich wurde Hebräisch gepaukt.
    Früher wäre es eine Tagesreise nach Berlin gewesen, jetzt genügten ein paar Schritte. Kafka musste dort hinüber, zu den Kindern, sich endlich vergewissern, dass dies kein Traum war. Und es ergab sich wie von selbst. Denn auch von der anderen Seite war er nicht unbemerkt geblieben. Vermutlich waren es Felix und Gerti, die am Strand bekannt machten, dass der überschlanke, zarte, dunkelhäutige Herr, der jetzt täglich hier auftauchte, ihr berühmter Onkel sei, der Schriftsteller Dr.Franz Kafka. Eines der Mädchen aus dem jüdischen Heim, {545} die sechzehnjährige Tile Rössler, klärte ihre Chawerim darüber auf, mit wem man es zu tun habe: Sie war Buchhandelslehrling, hatte schon den HEIZER in Händen gehalten und umschwärmte Kafka vom ersten Moment. Es gelang ihr, ihn allein zu sprechen, Kafka ließ sich gern darauf ein und hörte sich lange Geschichten häuslicher Nöte an. Schließlich war es Tile, die dafür sorgte, dass er zur nächsten Sabbatfeier eingeladen wurde. [645]   Ein großes Ereignis für alle. Noch am selben Tag beschaffte er sich ein hebräisches Gebetbuch, einen Siddur , und fragte nach, welche Verse denn wohl gelesen würden. Er wolle sich vorbereiten, um mit seiner Unkenntnis nicht allzu sehr aufzufallen. Denn an einer solchen Feier im eigens geschmückten Saal, mit Segenssprüchen, chassidischer Musik und opulentem Mahl, hatte Kafka sein Lebtag nicht teilgenommen.
    Am Abend des 13.Juli, eine Woche nach seiner Ankunft, ging Kafka hinüber, in der Tasche das Gebetbuch. Durch ein Fenster im Erdgeschoss blickte er in die Küche, in der eine junge Frau beschäftigt war, eine Frau mit halblangem, dichtem, lockigem Haar, runden Wangen und vollen Lippen. In der Hand hielt sie ein Messer, mit dem sie Fische abschuppte für das große Mahl. Kafka zögerte bei diesem Anblick. Erst als sie aufschaute, trat er ein. »So zarte Hände«, sagte er, »und sie müssen so blutige Arbeit verrichten.« [646]  

    Dymant, Dimont, Dymand, Diament, Dimant, Diamant. Vorname Dvojne, Dworja oder Dora. Die Unschärfe des Familiennamens, der in den spärlich überlieferten Dokumenten in sechs verschiedenen Schreibweisen erscheint, bedeutet Fremdheit, Unzugehörigkeit: Es sind Transkriptionen hebräischer Zeichen ins Jiddische und ins Deutsche. Die junge Frau gehörte zu beiden Welten: Für die deutschen Behörden war sie Dora Diamant, eine Widmung in einem Exemplar der LANDARZT-Erzählungen unterzeichnete sie später mit »Dora Dymant-Kafka«.
    »Ich kam aus dem Osten«, erinnerte sie sich, »als ein dunkles Geschöpf« [647]   : geboren am 4.März 1898 in Pabianice, einem Industrieort nahe Łódź. Ein polnischer Staat existierte zu diesem Zeitpunkt nicht, ihre Eltern waren daher Untertanen des Zaren: Herschel Aron und Frajda (jiddisch Friedel), die bei ihrer Heirat noch keine zwanzig Jahre alt waren. Acht Kinder wurden geboren; die beiden ersten wurden nur wenige Monate alt, von den überlebenden zwei Mädchen {546} und vier Jungen war Dora das zweite Kind. Die Mutter starb früh; vielleicht war es die letzte Niederkunft im Jahr 1905, welche sie das Leben kostete, vielleicht war es Tuberkulose. [648]  
    Herschel zog mit den Kindern ins oberschlesische Będzin, eine jüdisch dominierte Kleinstadt im Kohlenrevier. Er begründete eine Manufaktur, die Hosenträger und Sockenhalter produzierte, und wurde wohlhabend als Herschel der Schleikesmacher . Doch wenn er des Morgens an die Arbeit ging, hatte er bereits mehrere Stunden Lektüre und Gebet hinter sich. Denn er war der Musterfall eines gelehrten Chassiden, besaß eine eigene umfängliche Bibliothek, las das alte Hebräisch, sprach außer Polnisch auch Jiddisch und Deutsch und beachtete strengstens nicht nur die religiösen Rituale, sondern auch die lebenspraktischen Gebote des ultraorthodoxen Judentums – einschließlich der großzügigen Unterstützung und Bewirtung mittelloser Familien. Herschels langjähriger geistiger Mentor war der ›Wunderrabbi‹ von Ger (der jiddische Name von Góra Kalwaria), Oberhaupt eines in ganz Polen einflussreichen, extrem konservativen chassidischen ›Hofs‹.
    Dora wuchs auf in einer Welt, in der jede lebendige Regung und jedes alltägliche Geschehen symbolisch

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